2. Kapitel
»Verdammt«, zischte ich, als Finn zu mir an den Rand der Klippe gerobbt kam. »Wir sind schon wieder zu spät dran!«
»Pscht!«, machte er und warf mir durch das Farngestrüpp einen warnenden Blick zu. »Wenn dich ein Springer hört, war’s das für uns.«
»Ist doch egal«, flüsterte ich und kroch näher an den Klippenrand. Der Gesteinsboden war scharfkantig und grub sich in meine Handballen, was mich wieder fluchen ließ – diesmal leiser. Die Luft war kühl und die rote Morgensonne erklomm gemächlich den Horizont. Eine salzige Brise wehte über Hawaikis Küste und rauschte in den Farnpalmen.
Tief unter uns in der Geisterbucht hing ein gigantisches hölzernes Schiff zwischen zwei Felsen, die aus dem leuchtend blauen Wasser ragten. Das Schiff hatte große, weiße Segel und wirkte einsatzbereit. Kein Wasser auf Deck zu sehen und die Fässer, die gerade nach und nach von Springern weggeschafft wurden, standen gerade und ordentlich an Bord. Das Schiff sah nicht so aus, als wäre es durch einen Sturm gefahren oder als gehörte es hierher, genau wie die anderen drei in der Bucht. Sie alle wirkten fehl am Platz.
Egal wie viel Mühe Finn und ich uns gaben, egal wie lange wir die Geisterbucht beobachteten, es waren stets neue Schiffe dort unten, wann immer wir zurückkehrten. Nie sahen wir den Wechsel.
Finn brummte leise. »So egal kann es dir gar nicht sein. Du bist es doch, die unbedingt zu denen da unten gehören will.«
»Tu nicht so, als würdest du das nicht auch wollen«, flüsterte ich und warf Finn einen finsteren Blick zu. Die Springer waren eng mit unserem Glauben verbunden, traditions- und pflichtbewusst, was ihnen jede Menge Ansehen einbrachte. Aber überwiegend waren es fanatische, hochmütige, arrogante Mistkerle, die zu viel Rum tranken und glaubten, ihnen gehörte die Insel. Besonders die jüngeren Springer waren Idioten. Es war schwer, etwas zu lieben und regelrecht davon besessen zu sein, wenn jeder ein großkotziger Arsch war, der offiziell damit in Berührung kommen durfte. Bis auf meinen Vater verachteten wir sie so ziemlich alle, denn nur die Springer nahmen es sich heraus, Kinder der Ältestenfamilien zu schikanieren. Alle anderen ersparten, vor allem Finn, die körperlichen Qualen. Ich warnur eine Frau, deshalb schlugen sie mich nicht. Vermutlich bekam Finn deshalb oftmals so viel ab – weil er zwei Portionen Schläge einstecken musste. Es waren die Springer, die Finn verprügelten, uns in den Nacken spuckten oder uns öffentlich verspotteten. Ein Teil von ihnen zu werden, würde uns zwar endlich Freiheit schenken, etwas, was wir ansonsten nie erhalten würden, jedoch bedeutete es auch, dass wir vermutlich ein Leben lang mit ihrer Quälerei auskommen mussten.
Mein Wunsch zu entfliehen war größer. Ich sehnte mich so sehr nach all dieser Selbstbestimmung und Macht, dass es mir jede Qual wert wäre. Es gab nichts, wovon ich mehr träumte, als Hawaiki endlich verlassen zu können, um den Rest der Welt zu entdecken. Bis auf Finn gab es niemanden, der diesen Traum teilte. Die Aussicht, ein Teammitglied meines Vaters zu werden, der einen Springertrupp leitete, sah ohnehin nicht rosig aus. Springerinnen gab es zudem nicht. Das hatte man mir schon mehr als einmal deutlich zu verstehen gegeben. Und dennoch wollte ich diesen Traum nicht aufgeben.
»Mit einer Sache hast du recht«, murmelte Finn. »Ich kann nicht fassen, dass wir wieder den richtigen Moment verpasst haben, den Wechsel der Wracks mitzuerleben. Wie kann das sein?«
»Vielleicht sollten wir ein für alle Mal aufgeben.