1. KAPITEL
Dichte Nebelschwaden zogen über die dunklen Wasser des Fjords, während zwischen den Bäumen, die den Küstenstreifen säumten, allmählich der Morgendunst emporstieg. Die frühen Sonnenstrahlen tauchten die Gipfel der Bergkette in rotgoldenes Licht. Unter anderen Umständen hätte Lara diesen morgendlichen Frieden wohl genossen, in diesem Moment hatten allerdings ganz andere Gedanken von ihr Besitz ergriffen. Ihr Körper tat jede Bewegung ganz von selbst und genauso, wie ihr Bruder Alrik es sie gelehrt hatte. Um nicht aus der Übung zu kommen, stand sie jeden Morgen sehr früh auf und trainierte so lange, bis sich das Schwert in ihrer Hand genauso natürlich anfühlte wie die Spindel, die sie täglich bediente.
In der Halle war bestimmt noch niemand wach. Auch lag die Küste weit genug von den Behausungen entfernt, als dass man sie so einfach hätte entdecken können. Wenn ihr Vater wüsste, was sie die ganzen letzten Monate getan hatte, sein Unbehagen wäre grenzenlos. Lara verzog ihr Gesicht. Die Spannungen zwischen ihnen waren schon schlimm genug. Seit ihrem letzten Streit vor einer Woche hatten sie kaum mehr ein Wort miteinander gewechselt …
„Du bist jetzt achtzehn Jahre alt. Schon bald wird man dich alte Jungfer rufen. Wie kommt es, dass du trotzdem jeden Freier verschreckst und vom Hofe jagst?“
„Ängstliche Männer waren noch nie besonders reizvoll.“
„Nicht in diesem Ton, junge Dame“, hatte Jarl Ottar sie ermahnt. „Du wärst tatsächlich gut beraten, dein Verhalten zu kultivieren und ein wenig weiblichen Charme an den Tag zu legen.“
„Bin ich denn so gar nicht charmant, Vater?“
„Ich habe schon Wölfinnen gesehen, die von sanfterer Natur waren. Kein Mann will einen scharfzüngigen und kratzbürstigen Drachen zur Frau.“
„Wenn das so ist, dann steht es diesen Weichlingen frei, sich eine entsprechende Braut zu wählen.“
„Es ist die Aufgabe einer Frau, pflichtbewusst und demütig zu sein.“ Empörung war in Laras Augen aufgeblitzt. „So demütig, wie Asa es war, Vater?“
Der Blick ihres Vaters hatte sich verfinstert. „Deine Schwester hat getan, was man von ihr verlangte. Sie wusste, was gut für ihre Familie ist.“
„Versuche nicht, dich hinter der Familie zu verstecken. Asa wurde in diese Ehe hineingezwungen, weil es deinen politischen Zwecken dienlich war.“
„Diese Verbindung war nötig, um einer jahrelangen Fehde ein Ende zu bereiten.“
„Ebenso gut hättest du sie den Wölfen zum Fraß vorwerfen können. Mich wirst du für deine Pläne nicht missbrauchen.“
Und dann war Lara davongestürzt. Sie stellte sich jetzt vor, dass es ihr ehemaliger Schwager sei, in dessen Eingeweiden sie soeben die Klinge ihres Schwertes versenkte. Wie gern hätte sie ihm wahrhaftig gegenübergestanden, doch er war unerreichbar. Natürlich war sie klug genug zu wissen, dass sie jeden Kampf gegen ihn verlieren würde, und er sie mit leichter Hand umbrächte, wenn es zu einem Wiedersehen von Angesicht zu Angesicht käme. Doch auch wenn sie nicht die Stärke oder die Geschicklichkeit eines echten Kriegers besaß, verlieh ihr das Wissen um die Grundlagen der Selbstverteidigung mehr Sicherheit. So fühlte sie sich befähigt, jeden weiteren Freier in die Flucht zu schlagen.
„Ich werde stark sein, Asa“, sprach Lara zu sich. „Ich schwöre es.“
Voller Bedauern steckte sie das Schwert seitlich in den prachtvoll bestickten Gürtel ihres Gewandes, bevor sie ihren Umhang aufhob. Sie musste zurück, bevor die anderen merkten, dass sie verschwunden war. Trotz einer gewissen Widerspenstigkeit war es nicht ihr Ansinnen, die täglichen Pflichten zu vernachlässigen, die ihr zufielen. Die ihr übertragenen Aufgaben erfüllte sie stets tadellos. Sie schmunzelte. Männer, die wohlgenährt waren und es bequem hatten, beschwerten sich weniger als jene, denen es an irgendetwas fehlte. In jedem Fall war es gut, eine Beschäftigung zu haben, schließlich hatte sie Untätigkeit noch nie leiden können.
Sie wollte soeben aufbrechen, als sie plötzlich ein Schiff sah, das die Küste entlangsegelte. Obwohl es die elegante Form und den prachtvoll geschnitzten Bug eines Kriegsschiffes hatte, war es doch kleiner als die meisten der Drachenschiffe, die sie kannte. Die Mannschaft bestand gerade einmal aus schätzungsweise zwanzig Männern. Der Wind blies so schwach, dass die Männer das Schiff mit der Kraft der Ruder vorantreiben mussten. Die hölzernen Blätter tauchten im immer gleichen Rhythmus scharf in die See ein und wieder empor, gerade so, dass sie kaum das Wasser aufwirbelten. In stiller Bewunderung beobachtete Lara eine Mannschaft, die wie ein einziger Organismus zu funktionieren schien. Sie schaute von den Ruderern hinüber zu der Gestalt am Steuerrad – ein Krieger im Kettenhemd. Stirnrunzelnd sah sie etwas genauer hin. Jeder Mann an Bord trug ein solches Hemd. Ihre Neugierde war nun vollends geweckt. Selbst unter normalen Bedingungen war es kräftezehrend, ein solches Schiff zu rudern. Das Tragen von Kettenhemden machte die Arbeit bestimmt zehnmal härter. Alles sprach dafür, dass man das Schiff entweder angegriffen hatte, dass die Mannschaft erwartete, angegriffen zu werden, oder aber, dass sie selbst einen Angriff plante.
Sie ließ ihren Blick über den gesamten Fjord wandern, doch es war kein anderes Schiff auszumachen. Wenn man das Schiff verfolgte, so war dies zumindest nicht offensichtlich. Das musste zwar nicht bedeuten, dass jene Männer vorhatten, das Gehöft von Laras Familie anzugreifen, es war allerdings auch längst kein Grund zur Beruhigung. Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. Und genau aus die