: Melanie Vogltanz, Eleanor Bardilac, Simon Klemp, Eva-Maria Obermann, Jol Rosenberg, Clara Maj Dahlke
: Judith C. Vogt, Lena Richter, Heike Knopp-Sullivan
: Queer*Welten 10-2023
: Ach je Verlag
: 9783958695290
: 1
: CHF 3.20
:
: Science Fiction, Fantasy
: German
: 106
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Queer*Welten ist ein halbjährlich erscheinendes queerfeministisches Science-Fiction- und Fantasy-Magazin, das sich zum Ziel gesetzt hat, Kurzgeschichten, Gedichte, Illustrationen und Essaybeiträge zu veröffentlichen, die marginalisierte Erfahrungen und die Geschichten Marginalisierter in einem phantastischen Rahmen sichtbar machen. Außerdem beinhaltet es einen Queertalsbericht mit Rezensionen, Lesetipps, Veranstaltungshinweisen und mehr. In dieser Ausgabe: No Filter von Melanie Vogltanz (Kurzgeschichte) Brunnenlied von Eleanor Bardilac (Kurzgeschichte) Der Seelenpartnertest von Simon Klemp (Kurzgeschichte) Zwischentöne von Eva-Maria Obermann (Gedicht) Unterschied von Jol Rosenberg (Kurzgeschichte) Sarah von Clara Maj Dahlke (Kurzgeschichte) Auf Nimmerwiedersehen, Mittelerde von T. B. Persson (Essay) Zum Jubiläum: Ein Blick hinter die Kulissen von Queer*Welten von der Queer*Welten-Redaktion (Essay) Sonderausschreibung: Postkarten aus Queeren Welten Der Queertalsbericht 01/2023

Brunnenlied

von Eleanor Bardilac

Inhaltshinweise

Selbstverschuldeter Verlust einer Partnerschaft, Verlustbewältigung, Sprachlosigkeit

Tags

Wildniswelt mit Kuppelstädten, Mensch-Tier-Symbiose, Caring Community, Solarpunk, Iwein-Adaption

OUVERTÜRE: WER IN TRÄUMEN STIRBT

Jemand ruft deinen Namen und holt dich mit einer Berührung in deinen Körper zurück, macht aus dem dualen Ihr wieder ein singuläres Du.

Du blinzelst die letzten Reste Schlaf aus den Augen, aber die soeben durchstreifte Wildnis hängt noch an dir, und noch begreifst du die Welt mit Newas Sinnen. Träumt Newa in Worten, wenn ihr untrennbar seid, so wie du in Gerüchen und Farben träumst? Was sind Worte, wenn nicht Lieder? Was sind Lieder, wenn nicht –

Wer da deine Schulter berührt, bringt Regenluft und Waldbodengeruch. Der Weiße Hirsch ist in die Stadt Landuc gekommen, um nach dir zu sehen. Du kennst sein Geheimnis: Die Wildnis steckt in seinen Knochen und entweicht seinem Atem. Er ist nur nicht von den Flüsternden, die die Wildnis bändigen können, weil er ihr nicht zuhört. Das ungezähmte Draußen vor den Toren der Stadt, in dem das Leben für die meisten unmöglich ist, ist einfach ein Teil von ihm. Nicht umsonst hat er die Wandersterne ins Leben gerufen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Wege durch das mitunter bedrohliche Chaos der Wildnis zu finden und kuppelumschlossene Städte miteinander zu verbinden.

Du hast vom Weißen Hirsch geträumt, und die Dämmerung hat ihn real gemacht: dein Name auf seinen Lippen. Seine Hand auf deiner Schulter. Blaue Augen hinter der silbernen Hirschmaske, die er bei Besuchen in der Stadt immer trägt. Der Weiße Hirsch sucht Tarnung in seinem künstlichen Geweih. Stattdessen wird er davon gekrönt. Ein König in einer Welt, die keine Könige mehr kennt. Wildnis, in fremdbestimmte Form gegossen. In deinen Träumen hast du den Weißen Hirsch sterben sehen. Seit deiner Verbindung zu der Löwin Newa ist es nicht das erste Mal, dass du einen Blick auf das geworfen hast, was vielleicht noch kommen wird.

Noch nicht jetzt, denkt Newa, und was Newa denkt, denkst auch du. Durch den Neurolink wird das Ihr immer stärker sein als das Du, auch wenn das Du gelegentlich daraus hervortritt. Früher hat dir das Angst gemacht. Jetzt ist es nur gegeben: Gegeben wie die Zeit, und die Wildnis vor den schimmernden Holokuppeln, die Städte wie diese vor dem Chaos schützen sollen.Noch nicht jetzt, denkt Newa, und du spürst, du weißt, dass Newa Recht hat. Alles ist ein Kreislauf, Zeit und die Wildnis und das, was lebt. Newa hat ein besseres Gefühl dafür als du. Es kommt instinktiver für ein Geschöpf, das in und von der Wildnis geboren und nicht nur von ihr gefunden wurde. In deinen Träumen hast du den Weißen Hirsch sterben sehen. Aber es wird noch viele Mondzyklen dauern, bis dieser Traum seiner dünnen Schale entschlüpft und zum neuen Jetzt wird.

Im alten Jet