Renate und Rolf standen schon seit zwanzig Minuten am Gleis, als Merle schweißüberströmt und restlos abgehetzt die Treppen hocheilte und genau in dem Moment oben ankam, als der Zug gerade eintraf. Wieder mal war im Parkhaus kein Platz zu finden gewesen und die Stadt im morgendlichen Berufsverkehr restlos zugestaut. Ihre Eltern quittierten Merles Zuspätkommen mit genervten Blicken – es war ja nicht das erste Mal. Komisch, sich die Zeit korrekt einzuteilen war ihr aus irgendeinem Grund unmöglich. Sie hatte einfach kein Gefühl dafür, wie lang oder kurz fünf oder zehn Minuten waren, und schätzte die Zeitspanne deshalb grundsätzlich zu lang ein. Wenn sie sich im Bad die Zähne putzte, die Haare zurechtmachte und schminkte, kam es ihr vor, als wären nur drei Minuten vergangen, dabei waren es meist über zwanzig.
Ihre Eltern erklommen bereits ein Zugabteil, Merle atmete kurz durch, wuchtete ihren Koffer die Stiege hoch und folgte Rolf und Renate durch den Wagen.
Der Zug nach Westerland fuhr pünktlich ab, was einer Sensation gleichkam. Ständig gab es auf der Strecke Hamburg-Westerland Verspätungen oder Zugausfälle, weil die Gleise über den Hindenburgdamm nur einspurig führten. Hatten die betagten Dieselloks, die den Auto-Shuttle zogen, eine Panne (was angesichts ihres Alters relativ häufig vorkam) oder gab es irgendwelche anderen Probleme auf und an den Gleisen, kam es zu Zugausfällen, Verspätungen und in der Folge langen Autostaus auf den Zufahrtsstraßen. Das hatte in letzter Zeit zu jeder Menge Ärger, massiver Bevölkerungsempörung und großem Medienecho geführt. Arbeitskräfte, die sich eine Wohnung auf der teuren Insel nicht leisten konnten und pendeln mussten, waren die eine Sache. Die konnten sich ja l