: Lena Johannson
: Die Frauen vom Jungfernstieg. Antonias Hoffnung Roman
: Aufbau Verlag
: 9783841221049
: Jungfernstieg-Saga
: 1
: CHF 8.80
:
: Historische Romane und Erzählungen
: German
: 320
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Das Schicksal eines Hamburger Unternehmens. Hamburg, 1903: Gerda und Oscar ist mit Leukoplast ein echter Bestseller gelungen. Während Oscar sein gemeinnütziges Engagement verstärkt und damit bei den Hamburger Kaufleuten aneckt, veranstaltet Gerda in ihrer Villa in Eimsbüttel erfolgreiche Kunstsalons. Die Künstlerin Irma steht vor ihrem internationalen Durchbruch, und Antonia hat ihr Glück in der Liebe gefunden. Doch dann soll sie sich nach einem Schicksalsschlag plötzlich um die kleine Tochter ihrer Freundin kümmern. Sie ahnt nicht, welch schwieriger Kampf um das Kind ihr bevorsteht. Zugleich unterstützen die drei Frauen Oscar bei der Entwicklung einer neuartigen Creme, die die Welt der Kosmetik revolutionieren soll - denn auch die Konkurrenz ist dieser Idee auf der Spur. Berührend und authentisch - die große Saga nach dem Vorbild der Geschichte von Beiersdorf



Lena Johannson, 1967 in Reinbek bei Hamburg geboren, war Buchhändlerin, bevor sie als Reisejournalistin ihre beiden Leidenschaften Schreiben und Reisen verbinden konnte. Sie lebt als freie Autorin an der Ostsee.
Im Aufbau Taschenbuch sind ihre Bestseller 'Die Villa an der Elbchaussee', 'Jahre an der Elbchaussee', 'Töchter der Elbchaussee', 'Die Frauen vom Jungfernstieg - Gerdas Entscheidung', 'Die Frauen vom Jungfernstieg - Antonias Hoffnung', 'Die Frauen vom Jungfernstieg - Irmas Geheimnis' und 'Die Malerin des Nordlichts' lieferbar, ihre Romane 'Dünenmond', 'Rügensommer', 'Himmel über der Hallig', 'Der Sommer auf Usedom', 'Die Inselbahn', 'Liebesquartett auf Usedom', 'Strandzauber', 'Die Bernsteinhexe', 'Sommernächte und Lavendelküsse' sowie die Kriminalromane 'Große Fische' und 'Mord auf dem Dornbusch'.
Mehr zur Autorin unter www.lena-johannson.de

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Toni


Hamburg, im Oktober 1903

Die Sohlen ihrer Schuhe quietschten bei jedem Schritt. Schrecklich laut, fand Toni, aber leise konnte man auf dem blank polierten Linoleumboden einfach nicht gehen. Und Gretels Zimmer lag auch noch am Ende des langen Flurs. Eine Krankenschwester mit Häubchen und weißer Schürze kam ihr mit gesenktem Blick entgegen, gedämpfte Stimmen von irgendwoher. Ein unangenehm scharfer Geruch lag in der Luft. Tonis Finger tasteten nach dem Schal in ihrer Manteltasche. Besser, sie hielt sich den wieder vor Mund und Nase, solange sie bei Gretel war. Zur Sicherheit. So eine Schwindsucht war eine gefährliche Sache. Blöder Name. Gretel würde nicht verschwinden, das kam ja gar nicht in Frage. Was sollte dann aus Ellma werden? Die Lütte war doch erst fünf Jahre alt. Toni atmete noch einmal durch, ehe sie klopfte und das Krankenzimmer betrat. Von Mal zu Mal fiel es ihr schwerer, denn Gretel wurde immer blasser und dünner. Vielleicht passte Schwindsucht doch ganz gut.

»Toni, wie schön«, kam es leise aus dem Bett, das ganz hinten am Fenster stand. Insgesamt lagen sechs Frauen in dem schlichten, weiß gestrichenen Raum. Die meisten öffneten nicht einmal die Augen, als Toni zwischen den beiden Reihen hindurch ging.

»Moin, Gretel, na, wie geht’s dir heute? Siehst schon viel besser aus.« In so einer Situation war Schummeln erlaubt, fand Toni.

Das Gesicht der einstigen Kollegin war bleich, ein dünner Schweißfilm glänzte auf Stirn und Oberlippe. Die blonden Haare klebten in feuchten Strähnen an ihren Wangen und dem Kissen.

»Ich fühle mich auch schon besser.«

»Das ist eine gute Nachricht.«

»Nee, das ist gelogen. Genau wie dein ›Siehst schon viel besser aus‹.« Gretel lächelte gequält und musste husten. »Was macht Ellma, ist sie brav?«

Die Frage kam immer, so sicher wie Sturm im Herbst.

»Deine Tochter ist ein Schatz!« Das stimmte wirklich. Hermann war ganz vernarrt in die Kleine. Nicht nur er, die gesamte Belegschaft von Beiersdorf mochte das Mädchen. Seit Gretel im Krankenhaus Bethanien lag, wurde ihre Tochter von vorne bis hinten betüdelt.

»War Werner denn mal bei ihr?« Gretels Stimme war jetzt noch leiser. Auch diese Frage kam immer mit absoluter Sicherheit.

Toni senkte den Blick. »Ach, Gretel.« Jedes Mal das Gleiche, und nie konnte sie der Ärmsten etwas Schönes sagen. Am liebsten würde sie Werner Hagen links und rechts ’n paar verpassen.

»So ein Mistkerl! Dass man sich dermaßen in einem Menschen täuschen kann. Ich dachte doch wahrhaftig, er hat mich gern.«

Toni sah sie an. Das waren nun aber mal neue Töne. Bisher hatte Gretel den Vater ihres Kindes immer in Schutz genommen.

»Er mag dich schon leiden«, entgegnete sie. »Ganz bestimmt.« Sie seufzte. »Nur ist er eben ein oller Feigling. Er tanzt nach der Pfeife seiner Eltern und seiner Schwiegereltern.«

»Kann sein. Vielleicht hat es ihm auch bloß gefallen, eine Ehefrau und eine Freundin zu haben. Das Kind passte nur nicht zu seiner Ménage zu dritt.«

»Hat er dir wenigstens mal wieder etwas Geld gegeben?«

Gretel verdrehte die Augen. »Schon lange nicht. Weißt du, Toni, das ist das Schlimmste.« Sie hustete schon wieder, länger dieses Mal. Toni reichte ihr ein Glas Wasser. »Danke«, keuchte sie. »Ich dachte, zumindest die Kleine bedeutet ihm etwas. Aber er kümmert sich nicht mal um sein eigenes Fleisch und Blut. Ihm ist völlig egal, wo die Lütte bleibt, während ich hier bin, oder was aus ihr werden soll, wenn ich nicht mehr nach Hause komme.«

»Daran darfst du nicht mal denken.« Toni schluckte den Kloß herunter, der plötzlich in ihrem Hals steckte.

»Als ob ich mir ein Kindermädchen leisten könnte«, sprach Gretel unbeirrt weiter. »Ich kann Herrn Troplowitz gar nicht genug danken, dass Ellma weiter in die Stillstube von Beiersdorf gehen darf.«

»Von wegen. Der Chef will die Lütte sehen, so oft es geht. So sieht’s aus.« Toni zog eine Grimasse und freute sich über Gretels Lächeln. Sie zupfte eine Falte des Lakens glatt und erzählte, was bei Beiersdorf so los war. »Wird Zeit, dass du wieder zur Arbeit kommst. Wir können jede helfende Hand gebrauchen.« Sie pustete sich ihren Pony aus dem Gesicht. »Wir können gar nicht so viel Leukoplast herstellen, wie die Leute haben wollen. Es ist unser Renner.«

»Kannst stolz auf dich sein.«

»Nee, nee, damit hab ich nichts zu tun.«

»Aber klar! Du hast doch damals kurz vor der großen Präsentation ein neues Material für das Pflaster ins Spiel gebracht. Und du leitest die Reklameabteilung.«

»Schön wär’s. Inzwischen verwenden die Herren der Entwicklung schon wieder einen anderen Stoff als das von mir vorgeschlagene Segeltuch. Und Reklame brauchen wir für Leukoplast nun wirklich nicht machen. Das verkauft sich von ganz allein.«

»Trotzdem«, beharrte Gretel. »Als wir uns kennengelernt haben, hast du noch Etiketten geklebt. Jetzt bist du Abteilungsleiterin«, sagte sie ehrfürchtig.

»Na ja, Abteilungsleiterin bin ich eigentlich nicht so richtig. Eher Mädchen für alles in der Reklame. Der Direktor mag meine Ideen leiden. Trotzdem stehe ich auch noch oft genug an der Verpackungsmaschine.«

Ein bisschen war dann aber doch etwas dran an dem, was Gretel gesagt hatte. Toni konnte es manchmal selbst noch nicht glauben. Wenn sie darüber nachdachte, dass sie zuerst versucht hatte, Richards alte Rezepturen zu nutzen, um an ihrem Küchentisch Pflaster herzustellen und an Beiersdorf zu verkaufen. Hätte sie gleich wissen können, dass das nicht ewig gut gehen würde. Und dann war sie auch noch so frech gewesen, einen Posten in der Entwicklungsabteilung zu verlangen. Ohne Studium oder sonst eine Ausbildung. Sie hatte sich doch allen Ernstes eingebildet, sie könnte sich mit dem bisschen, was sie von ihrem Mann abgeguckt hatte, selber neue Produkte ausdenken. Dass Herr Troplowitz ihr überhaupt eine Anstellung angeboten und ihr vor drei Jahren auch noch die Chance gegeben hat, mehr aus sich zu machen, das war sehr anständig von ihm. Ihr ging es wie Gretel, sie konnte es ihm gar nicht hoch genug anrechnen.

Gretel fragte nach Hermann und nach Therese Köhler, der von den Mitarbeitern gefürchteten Vorzimmerdame des Direktors.

»Frau Köhler hast du mindestens genauso viel zu verdanken wie Herrn Troplowitz.«

»Kann man wohl sagen. Hättest du gedacht, dass ausgerechnet die das Kind einer Arbeiterin zu sich nimmt?« Toni wusste, dass Gretel keine Antwort erwartete. »Vorübergehend, aber immerhin. Sonst hätte die Lütte bei meiner Mutter und meinen Geschwistern unterkommen müssen. Darf ich mir gar nicht vorstellen.«

Gretels Mutter hatte ihre Tochter zwar nicht gerade verstoßen, als der Babybauch nicht mehr zu übersehen gewesen war, aber sie hatte auch keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung gemacht. Gretel durfte auch nach der Geburt bei ihr wohnen, allein schon, um sich weiter um ihre Brüder und Schwestern zu kümmern. Bloß hatte sie die ständigen Vorwürfe nicht lange ausgehalten. Am Anfang war Werner seiner Unterhaltspflicht noch nachgekommen, und dank der Stillstube konnte Gretel bald zurück an ihren Arbeitsplatz kommen und ihr eigenes Geld verdienen. Davon hatte sie sich ein Zimmer mit Küchenbenutzung gemietet, als Ellma knapp ein Jahr alt war. Wäre nicht gutgegangen, wenn das arme Ding vier Jahre später zurück zu seiner Oma hätte ziehen müssen.

»Ich wünschte trotzdem, Ellma könnte bei euch wohnen«, sagte Gretel. War nicht das erste Mal, dass sie davon sprach.

»Wir würden sie zu gerne bei uns haben, und das weißt du auch«, versicherte Toni ihr. »Aber wir haben doch so schon kaum Platz. Und die Köhler hat drei Zimmer ganz für sich allein. Sagt sie.« Tonis Meinung über die Sekretärin des Chefs hatte sich gründlich geändert. Bei ihrer ersten Begegnung und auch in den ersten Monaten hatte Toni immer Respekt vor ihr gehabt, um nicht zu sagen: Angst. Allerdings hatte es immer mehr Situationen gegeben, in denen Frau Köhler, die Toni insgeheim wegen ihrer Kleidung »die Graue« nannte, ein großes Herz und einen feinen Humor bewiesen hatte. Schon drollig, nun arbeitete Toni bereits seit Jahren dort, sah die Graue...