: Andreas Brandhorst
: Das Netz der Sterne Roman
: Piper Verlag
: 9783492994248
: 1
: CHF 10.60
:
: Science Fiction
: German
: 512
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
In die unbekannten Weiten des Universums vorzustoßen - das ist der Job der Kartografen bei Interkosmika, dem Konzern, der die interstellaren Reisen zwischen den Sternen kontrolliert. Tess ist eine solche Kartografin, doch nicht freiwillig, denn sie muss bei Interkosmika die Schulden ihrer Familie abarbeiten. Und sie weiß, dass ihre Mission alles andere als einfach wird. Denn ihr Auftrag führt sie in eine Region, aus der noch keiner lebend zurückgekehrt ist ... Mit »Das Netz der Sterne« stößt Andreas Brandhorst das Tor zu einer neuen Welt auf - ideal für Brandhorst-Fans und Neueinsteiger!

Andreas Brandhorst, geboren 1956 im norddeutschen Sielhorst, schrieb mit seinen futuristischen Thrillern und Science-Fiction-Romanen wie »Das Schiff« und »Omni« zahlreiche Bestseller. Spektakuläre Zukunftsvisionen sind sein Markenzeichen. Der SPIEGEL-Bestseller »Das Erwachen« widmet sich dem Thema Künstliche Intelligenz, sein Wissenschaftsthriller »Ewiges Leben« zeigt Chancen und Gefahren der Gentechnik auf. Zuletzt erschienen im Piper Verlag die Romane »Mars Discovery« und »Sleepless«.

Unerwarteter Besuch


1


Die Dämmerung kroch über den Himmel und kündigte eine lange Nacht an, die zweiunddreißig Jahre dauern würde. Tess ging über den steinigen Weg den Hang hinab, zum Obsidian, wie so oft während des fast drei Jahrzehnte langen Tages, der nun zu Ende ging und ihre Kindheit und Jugend gesehen hatte. Der Ozean – er verdankte seinen Namen dem tiefschwarzen Kolorat, einem Licht absorbierenden Mineral – schien mit dem fernen, dunkler werdenden Horizont zu verschmelzen. Noch lag er glatt wie Glas, aber ein scharfer Geruch in der Luft wies darauf hin, dass bald die Stürme beginnen würden, wie zu Beginn jeder langen Nacht.

Ein letztes Lied, dachte Tess. Ein letzter Gesang, um Abschied zu nehmen von den Oktopoden und ihrer Welt.

Am Ufer blieb sie stehen, bei den kleinen runden Steinen, wie stets seit ihrer Kindheit. Einige Meter hinter ihr setzte sich Sinclair auf einen Felsen und wartete stumm – dies war allein ihr Moment. Schon als Kinder hatten sie diesen besonderen Ort gemeinsam besucht. Tess erinnerte sich an sein Staunen, mit großen Augen und offenem Mund, als er zum ersten Mal ihren Gesang gehört hatte. Damals, zu Beginn des jetzt zu Ende gehenden langen Tages, war etwas zwischen ihnen entstanden und über die Jahre gewachsen, erst eine zarte Verbindung, dann eine feste Brücke und schließlich ein Wir. Es war ein großes Wir, groß genug für Opferbereitschaft und Selbstlosigkeit.

Sinclair hatte beschlossen, seinen Vertrag als Hyperschiffpilot vorzeitig zu kündigen, um Tess nach Harmonie im Ophiuchus-Sektor zu begleiten. Die Einladung von der Musikakademie lag bereits vor. Als Kind hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht, als eines Tages Raumschiffe durchs All zu steuern, erst interplanetare Lichtschiffe innerhalb von Sonnensystemen, dann Hyperschiffe, die den von Kartografen und Einrichtern erforschten Gleisen des Hyperons folgten und viele Lichtjahre innerhalb weniger Tage oder Wochen zurücklegten. Sein größter Wunsch war in Erfüllung gegangen, doch er war bereit, darauf zu verzichten, damit sie zusammenbleiben konnten.

Einige Sekunden stand Tess reglos, nahm die Stille in sich auf und spürte, wie sie tief in ihrem Innern zu einer Art Resonanzboden wurde. Erste Sterne funkelten – die heranrückende lange Nacht würde noch viel mehr von ihnen an den Himmel bringen. Ein mehrmaliges Flackern wies auf die Position der Hyperon-Station hin – vielleicht stammte es von dem Schiff, mit dem Anita kam.

Tess lächelte bei diesem Gedanken. Ihre Schwester hatte sich angekündigt, kurz nach der Einladung nach Harmonie. Interkosmika hatte ihren Antrag auf eine Dienstpause genehmigt, damit sie hier auf Rosengarten feiern und Abschied nehmen konnten.

Die Stille schien sich auszudehnen, weit über das Obsidian hinweg. Die Dämmerung schwieg und wartete.

Tess holte tief Luft und begann zu singen.

Sie sang in der alten Sprache, die sie von ihrer Mutter gelernt hatte, vom Tag und von der Nacht, die einander abwechselten, von Wäldern, grün wie Smaragd, und Meeren, blau wie Opal. Sie sang von Leben, Hoffnung und Freude, und wie immer fühlte sie, wie sie dabei wuchs und ihre Stimme in allem Lebendigen widerhallte, das sie umgab.

Erste Oktopoden erschienen. Das Obsidian war nicht mehr glatt und unbewegt. Die schwarze Oberfläche kräuselte sich, kleine Wellen entstanden, und