Alisa
Alisa lauschte auf ihren Herzschlag. Tammo hatte sie einmal gefragt, ob der wehtäte. Sie hatte stumm den Kopf geschüttelt. Dieser Moment schien mindestens so weit entfernt wie Hamburg, obwohl es erst Wochen her war, dass er die Frage gestellt hatte.
Jetzt riss jeder Schlag ein Loch in ihre Brust. Sie blieb reglos liegen, als sie die anderen Mädchen ins Schlafquartier kommen hörte. Joanne unterhielt sich leise mit Easy. Fanny zog noch immer über Ivy her, fragte, warum die für ihren Betrug nicht gleich mit in die Sonne geschickt würde, wie Calvina. Inger zischte wütend, dass sie endlich den Mund halten solle, wenn sie nichts anderes als Schwachsinn von sich geben könnte.
»Was hast du nur mit der Lycana?«, fragte Fanny, offensichtlich unbeeindruckt von Ingers Wut.
»Nichts. Du nervst einfach.« Inger klang wenig überzeugend, fand Alisa. Fanny hingegen schien sich mit der Antwort abzufinden – oder die beiden setzten ihre Unterhaltung in Gedanken fort. Weder Joanne noch Easy gaben einen Laut von sich. Alisa starrte in die Dunkelheit, die sie umgab, undin der es keinen Unterschied machte, ob sie die Augen schloss oder offen hielt. Von draußen hörte sie nur noch Schritte, keine Stimmen mehr. Dann klappten drei Sargdeckel zu.
Es war still. Zeit verging. Oder auch nicht.
Sie sollte schlafen. Unmöglich. Wie konnten die Ehrwürdigen so grausam sein? Es musste eine Möglichkeit geben, Calvina vor diesem Urteil zu bewahren! Sie hatte nichts getan, was ein Todesurteil rechtfertigte – das war genauso ungerecht, wie das Urteil gegen Hindrik gewesen war. Genauso ungerecht wie alles, was Schattenvampire betraf.
Vermutlich sollte sie dankbar sein, dass Ivy für ihre Täuschung nicht mit dem Tod bestraft wurde. Würde sie sich das je verzeihen können? Ein paar blöde Sekunden der Unbedachtheit – und Ivy hatte alles verloren. Wegen ihr. Warum hatte sie auch ihren Mund nicht halten können? Dann wäre alles noch gut! Nicht alles, korrigierte Alisa sich und presste die Hände gegen ihre Brust, als könnte sie damit ihr pochendes Herz besänftigen. Je mehr sie von der Welt sah, desto mehr Ungerechtigkeiten offenbarten sich ihr. Wie konnte Leo vor all dem die Augen verschließen? Sogar dieser sturköpfige Dracas müsste begreifen, dass sich etwas grundlegend ändern musste.
Sie drückte ihre Hände noch fester gegen ihren Brustkorb, als das Kribbeln auf der Handfläche begann. Nicht schon wieder! Bitte, nicht schon … Aber das Licht des Funkens drang zwischen ihren Fingern hervor, vertrieb die Dunkelheit in ihrem Sarg, riss sie mit sich fort, wirbelte unten und oben durcheinander, ließ sie stürzen, aufsteigen, stürzen und fallen und –
Wieder die Gasse, die auf den Platz mit dem Wunschbrunnen hinausgeht. Alisa lehnt sich an eine Hauswand, weil etwas Festes im Rücken den Schwindel schneller vertreibt. Sie will nicht zum Brunnen schauen, weil sie schon weiß, wen sie dort sehen wird, denn sie kennt die zwei Stimmen nur zu gut. Sie will nicht, aber sie muss. Alisa strafft die Schultern und blickt zum Brunnen. Nicu steht mit ausgestreckter Hand vor Dracula.
»Gib mir meine Münze zurück«, verlangt er, ohne den Vampir anzusehen. Dracula lässt wortlos die Münze auf Nicus Handfläche fallen. Der schließt die Finger darum und drückt die Faust an seine Brust.