Prolog
Grayson goss sich drei Finger des besten Scotchs seines Onkels ein und setzte sich fernab des Trubels um Hunter und Megans Hochzeit in eine ruhige Ecke. Der erste Schluck brannte wie flüssiges Feuer in seiner Kehle, wärmte ihn aber auch von innen. Er musste sich ablenken. Es machte ihn so wütend, was Max’ Exfreundin Chloe über ihr Baby entschieden hatte.
Es war jetzt zwanzig lange Jahre her, dass Graysons Vater Frau und Kinder einfach so verlassen hatte. Grayson hatte seiner Mutter helfen müssen, die Scherben aufzulesen. Bis dahin hatte er es gemocht, das älteste Kind zu sein; er hatte die Privilegien genossen, die damit einhergingen. Doch dann war er von heute auf morgen auf einmal der Mann im Haus gewesen, verantwortlich für seine verzweifelte Mutter und sieben jüngere Geschwister, die von ihm erwarteten, dass er ihnen erklärte, was er bis heute selbst nicht verstand.
Hier war er nun, ein sechsunddreißigjähriger Mann und erfolgreicher Anwalt – und dennoch hatte ihn die Szene mit Chloe und Max in Tante Mollys Küche gerade wieder an den Abend zurückversetzt, an dem seine Kindheit ein frühzeitiges Ende gefunden hatte. Er konnte sich noch viel zu gut an die Panik erinnern, die er empfunden hatte, die Verzweiflung und die Angst … all das hatte sich zu einem heißen Ball aus Zorn zusammengefügt, den er bis heute in sich trug.
Wie jemand sein eigenes Kind verlassen konnte – oder gar acht davon – überstieg seine Vorstellungskraft. Er hasste Chloe, eine Frau, die er kaum kannte, für das, was sie heute Abend ihrem Sohn angetan hatte. Denn eines Tages, in nicht allzu ferner Zukunft, würde Caden rausfinden, dass seine Mutter ihn abgewiesen hatte, und er würde nie wieder derselbe sein.
Grayson war nie wieder derselbe gewesen. Er nahm noch einen tiefen Schluck Scotch und genoss die beruhigende Wirkung des Alkohols.
»Was ist das für ein Zeug?«, fragte eine helle Stimme neben ihm.
Er fuhr herum und erblickte das kleine rothaarige Mädchen, das sich unbemerkt zu ihm in seine nicht mehr ganz so ruhige Ecke gesetzt hatte. »Das ist Scotch. Hast du das schon mal probiert?«
Sie rümpfte das Näschen. »Natürlich nicht. Ich bin doch ein Kind. Kinder trinken keinen Scotch. Aber mein Opa mag Scotch, deswegen weiß ich, was das ist.«
»Was trinkst du denn gern?«
»Ich mag Apfelsaft, aber Mommy sagt, der hat zu viel Zucker, deshalb darf ich nur manchmal welchen haben.«
»Deine Mommy ist sehr klug.«
»Sie ist auch sehr hübsch.« Das Mädchen streckte den kleinen Arm aus. »Da drüben ist sie.«
Sein Blick folgte ihrem Finger zu der jungen Frau, die er am Abend zuvor kennengelernt hatte. Er musste der Kleinen recht geben, Lucys Schwester Emma war tatsächlich sehr hübsch. Ihre Tochter kam nach ihrer Tante Lucy, die ebenfalls rote Haare und blasse Haut hatte. Emma dagegen war eine gertenschlanke Blondine mit großen blauen Augen.
»Hast du eine Freundin?«
»Wer will das denn wissen?«, fragte er zurück, amüsiert über die offensichtlichen Kuppel-Bemühungen des Mädchens.
»Ich!«
»Und wie heißt du?«
»Simone.«
»Das ist aber ein schöner Name. Hast du einen Freund?«
»Nein! Ich bin erst neun. Neunjährige haben noch keinen Freund. Du bist wie Colton«, sagte sie über seinen Cousin, der mit Lucy verlobt war. »Er weißgar nichts über Kinder.«
Grayson wusste mehr über Kinder als jeder andere kinderlose Mann seines Alters, doch er behielt diese Information für sich. »Was sollte ich denn über Kinder wissen?«
»Na ja, du solltest wissen, dass neunjährige Mädchen keinen Scotch trinken und keinen Freund haben.«
»Ich schätze, du rauchst auch nicht, oder?«
Sie kicherte ausgelassen, und er verlor ein kleines Stückchen seines Herzens an sie. Sie war wirklich süß. »Nein! Ich rauche nicht. Rauchen ist eklig und bringt einen um.«
»Das ist absolut richtig. Halt dich bloß fern davon.«
»Was wünschst du dir dieses Jahr zu Weihnachten?«, fragte Simone.
Gott, was für eine niedliche Frage. Was wünschte er sich überhaupt? Wie wäre es mit etwas Frieden und einem ganz neuen Leben? Das wäre schon mal ein Anfang. »Ich wünsche mir ein Paar Socken. Und du?«
»Socken? Wer wünscht sich denn Socken zu Weihnachten?«
»Ich, und es istmeine Weihnachtswunschliste, also mach dich nicht darüber lustig.«
»Das stimmt. Entschuldige.«
Er stupste sie sanft mit dem Ellenbogen an. »Ich mache doch nur Spaß. Du kannst dich ruhig über mich lustig machen. Socken sind ein blöder Weihnachtswunsch. Was steht auf deiner Liste?«
»Ich wünsche mir eine neue American-Girl-Puppe, aber die ist ziemlich teuer. Nicht sicher, ob das klappt. A