: Jonathan B. Losos
: Von der Savanne aufs Sofa Eine Evolutionsgeschichte der Katze
: Carl Hanser Verlag München
: 9783446278653
: 1
: CHF 17.90
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: Naturwissenschaft
: German
: 384
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wollen Sie Ihre Katze wirklich verstehen? Dann lernen Sie ihre Vorfahren kennen!
Ihre Fans wird es nicht überraschen: Die Katze zählt nicht nur zu den beliebtesten Haustieren- sie hat sich seit ihren Ursprüngen in Afrika auch zu einer der erfolgreichsten Spezies auf dem Planeten entwickelt. Jonathan B. Losos, vielfach ausgezeichneter Evolutionsbiologe und begeisterter Katzenbesitzer, erläutert unterhaltsam, was die Wissenschaft über Herkunft und Verhalten der Hauskatze weiß. Neben Genomforschung, GPS-Tracking und forensischer Archäologie stützt er sich dabei auch auf Beobachtungen aus dem eigenen Alltag. Das Ergebnis: eine originelle Evolutionsgeschichte der Katze, die komplexe Naturwissenschaft mit all den Fragen verbindet, die jeder Katzenhaushalt kennt, wenn wieder einmal ein toter Vogel auf dem Kopfkissen liegt.

Jonathan B. Losos ist Professor für Evolutionsbiologie an der Washington University. Er ist Träger des Theodosius Dobzhansky Prize und des David Starr Jordan Prize sowie Empfänger der Daniel Giraud Elliot Medal der National Academy of Science. Losos ist der prominenteste Vertreter der Experimentellen Evolutionsforschung. Sein letztes Buch Glücksfall Mensch: Ist Evolution vorhersehbar? erschien 2018 bei Hanser.

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Das Paradoxon der modernen Katze


Es sei ein Glück, dass Katzen nicht so groß wie Hunde sind, heißt es in einem alten Witz, sonst würden sie ihre Besitzer fressen. Als Wissenschaftler, der zugleich ein großer Katzenliebhaber ist, habe ich zunächst gelacht, dann aber überlegt: »Wie kann ich diese These erforschen?« Leider hat selbst die Wissenschaft ihre Grenzen. Bis wir in der Lage sind,35 Kilo schwere Hauskatzen zu züchten, werden wir keine gültige Antwort bekommen.

Damit soll nicht gesagt sein, dass die Wissenschaft gar nichts zu dieser Frage zu sagen hätte. Eine Forschungsarbeit aus dem Jahr2014 fand ein großes Medienecho, als sie zu der Schlussfolgerung kam: »Katzen würden Sie umbringen, wenn sie größer wären«, so derOrlando Sentinel in seiner Schlagzeile.USAToday entsorgte die Feinheiten und erklärte: »Ihre Katze möchte Sie vielleicht umbringen.«

In Wahrheit stand nichts dergleichen in dem Forschungsbericht, sondern die Forscher hatten bei fünf Katzenarten, die sich in der Größe von der Hauskatze bis zum afrikanischen Löwen erstreckten, Eigenschaften wie Aggressivität und Umgänglichkeit untereinander verglichen. Die erste Schlussfolgerung lautete, dass es bezogen auf die Persönlichkeit — unabhängig von der Größe — kaum Unterschiede zwischen Katzen gibt. Tierpfleger haben mir das Gleiche erzählt: Versteht man Ausdruck und Körperhaltung seiner Katze, erkennt man auch, was ein Löwe oder Tiger denkt. Die Forscherinnen haben nicht behauptet, Hauskatzen würden, wären sie so groß wie Löwen, überlegen, ob Sie sich zur Abendmahlzeit eignen — dieser Schluss stammt von den Journalisten und Bloggern.*1*2

Unabhängig von ihrer Bedeutung für menschenfressende Miezen offenbart die Forschungsarbeit eine wichtige Tatsache: In vielerlei Hinsicht ist eine Katze eine Katze, egal, wie groß sie ist. Dieses Ergebnis wird niemanden überraschen, der stundenlang Internetvideos geschaut hat, in denen Tiger hinter Laserpunkten herjagen, Leoparden in Pappschachteln springen und Löwen sich in Katzenminze wälzen.

Warum unsere Hausfreunde ein wenig anders sind als ihre wild lebenden Verwandten, wurde mir vor Augen geführt, als ich vor einigen Jahren mit meiner Frau Melissa eine Reise nach Südafrika unternahm. Als wir nachts unweit des Krüger-Nationalparks umherfuhren, sahen wir oft schlanke sandfarbene Katzen, schwach getupft oder gestreift, die einen Augenblick im Licht der Scheinwerfer verharrten, bevor sie wieder in der Dunkelheit verschwanden.

Die ersten sahen wir relativ nahe an der Wild-Lodge, in der wir wohnten. Aufgrund ihrer Größe und ihres Erscheinungsbilds nahm ich an, es handle sich um Haustiere oder sie gehörten einem Mitarbeiter der Lodge, der sie hielt, um die Nager zu verjagen. Auf jeden Fall schien es sich um Hauskatzen zu handeln, die einen Streifzug in die afrikanische Wildnis unternahmen. Das kann nicht gut gehen, dachte ich, bei all den größeren Raubtieren, die sich hier herumtreiben, aber das ist ihre Sache, nicht meine. Daher schenkte ich diesen kleinen Rumtreibern keine besondere Aufmerksamkeit und war auch nicht enttäuscht, wenn sie schnell wieder im Busch verschwanden — wenn ich sie im Lager wiedersah, wollte ich sie ein bisschen streicheln.

Eine Falbkatze.

Doch eines Tages begegneten wir einer dieser Katzen kilometerweit von der Lodge entfernt, und mir wurde klar, dass sie niemandes Hauskatze sein konnte. Und sie war es tatsächlich nicht, sondern eine Afrikanische Wildkatze oder Falbkatze (Felis lybica), die Art, von der Hauskatzen abstammen (in Kapitel sechs werden wir erörtern, woher wir das wissen).*3 Die genauere Betrachtung offenbarte charakteristische Merkmale: Beine, die länger sind als die der meisten Hauskatzen, und eine auffällige schwarze Schwanzspitze. Doch sähen Sie eine von Ihrem Küchenfenster aus, wäre Ihr erster Gedanke »Sieh da, was für eine schöne Katze in unserem Garten«, nicht: »Was hat diese Afrikanische Wildkatze nach New Jersey verschlagen?«

Auch im Verhalten unterscheiden sich die meisten Hauskatzen nur wenig von ihren Vorfahren. Gewiss, sie sind freundlicher — oder zumindest duldsamer — gegenüber Menschen und manchmal geselliger im Umgang miteinander, doch in anderen Hinsichten — Jagen, Fellpflege, Schlafen und allgemeiner Habitus — verhalten sie sich genau wie Wildkatzen. Tatsächlich belegt der Umstand, wie leicht ausgesetzte Katzen verwildern und wieder in ihre tief verwurzelten, ursprünglichen Verhaltensweisen verfallen, dass es mit der Evolution der Hauskatze nicht so weit her ist.

Aus diesem Grund bezeichnet man Hauskatzen gemeinhin als »kaum domestiziert« oder »halb domestiziert«. Domestizierung ist der Prozess, in dem sich Tiere und Pflanzen durch ihre Interaktion mit den Menschen in einer Weise verändern, die uns nutzt.*4 Mit »verändern« meine ich dabei, dass sie genetischen Modifikationen unterworfen waren, die sie in Verhalten, Physiologie und Anatomie von ihren Vorfahren unterscheiden.*5

Im Gegensatz zu Katzen gibt es bei »vollständig domestizierten« Arten tief reichende Unterschiede zu ihren wild lebenden Vorfahren. Betrachten wir das Hausschwein. Groß, dick, rosa, Ringelschwanz, Schlappohren, sehr spärliche Behaarung.Sus domestica ist der Inbegriff des domestizierten Tiers, eine vom Menschen geformte Tierart, erheblich verändert gegenüber dem ursprünglichen Wildschwein (Sus scrofa), damit es unseren Bedürfnissen und Wünschen entspricht. Oder nehmen wir die Kühe; himmelweit sind sie von den wild lebenden majestätischen Rindern entfernt, die ihre Vorfahren waren. In Jahrtausenden haben wir sie durch selektive Züchtung in Fleisch und Milch produzierende Maschinen verwandelt.*6 Durch eine ähnliche Selektion hat man Nahrungspflanzen wie Mais und Weizen gezogen, die nur noch wenig mit ihren wild lebenden Urahnen gemein haben.

Nicht so die Hauskatzen. Man werfe einen Blick unter den Lack — die Unterschiede in Haarlänge, Farbe und Textur —, und schon kann man die meisten Hauskatzen und Wildkatzen kaum noch auseinanderhalten. Die vielen großen Unterschiede in Anatomie, Physiologie und Verhalten, die die überwiegende Zahl domestizierter Arten von ihren Vorfahren unterscheidet, gibt es bei Katzen nicht.

Neuere Genomstudien bestätigen diese Ansicht. Während die Hunde in vielen Genen von Wölfen abweichen, sind es bei domestizierten Katzen und Wildkatzen nur eine Handvoll. Katzen sind in Wahrheit kaum domestiziert.

Doch diese Feststellung ist mit einer Einschränkung zu versehen. Eine kleine Minderheit von Katzen sind Mitglieder bestimmter Rassen (der Rest wird zusammengefasst zur Kategorie »domestizierte Kurz- und Langhaarkatzen«, eine höfliche Umschreibung für »Mischlinge«*7). Eine Rasse ist eine Gruppe von Individuen, die eine Reihe charakteristischer Merkmale gemeinsam haben und sich durch sie von anderen Mitgliedern der Art unterscheiden. Die Besonderheit der Rasse wird gewahrt, indem man die Mitglieder einer Rasse Generation für Generation nur miteinander paart. Das verankert die Gene für diese Merkmale fest in der ganzen Rasse.*8

Katzenrassen variieren in ihrer Unterschiedlichkeit. Einige Rassen weichen nur ein wenig vom Standardmodell ab und sehen wie typische Hauskatzen aus, höchstens dass das Fell ein wenig gelockt ist oder die Ohren etwas hängen.

Doch viele Katzenrassen sind in Gestalt und Verhalten ganz anders als ihre Vorfahren. Begegneten Sie einem Mitglied dieser Rassen auf der afrikanischen Savanne, würden Sie sie nie für eine Afrikanische Wildkatze halten.

Tatsächlich unterscheiden sich einige Rassen nicht nur erheblich von einer normalen Hauskatze, sondern auch von anderen Mitgliedern der Felidae (der wissenschaftliche Name für die Katzenfamilie, die alles umfasst, von Hauskatzen und Ozelots bis zu Löwen und Tigern). Mit anderen Worten, selektive Züchtung hat Katzen...