Mittwoch
Mittwoch,25. Dezember,9:15 Uhr
Auch der erste Weihnachtstag brachte Regen. Das Grau über der Stadt schien sämtliche Lichter und Feierlaune aufzusaugen, doch Julia Durant vermutete, dass es vielmehr an den beiden Schicksalen lag, die ihr und Claus gestern begegnet waren. Er stand gerade unter der Dusche, sie hielt eine Tasse Kaffee in den Händen. Unter den nackten Füßen der Perserteppich, ihre Zehen spielten mit dem Rand. Als das Festnetztelefon klingelte, zuckte sie zusammen. Früher, an Weihnachten, war es stets ihr Paps gewesen, der sich als Erstes gemeldet hatte. Meistens früh am Vormittag, da er wegen der Messen einen vollen Feiertagsfahrplan hatte. Doch heute kam der Anruf nicht aus München, sondern nur aus der Nachbarstadt. Es war Peter Brandt, Offenbach.
»Buon natale«, wünschte er, was seltsam klang, denn Brandt hatte zwar italienische Wurzeln, war aber sowohl dem Aussehen als auch dem Dialekt nach einer der typischsten Hessen, die Durant je erlebt hatte.
»Danke, dir auch. Ich vermute mal, du rufst nicht an, um uns gute, neue Mär zu bringen.«
»Wie misstrauisch du bist. Aber leider hast du recht. Es geht um die Tote an der Staustufe. Ist dein Liebster denn auch in der Nähe?«
»Im Bad.«
Brandt zögerte kurz. »Okay. Ist auch egal, wem von euch beiden ich es erzähle, es bleibt ja in der Familie. Also pass auf: Ich wurde gerade von der Sitte informiert. Es gibt eine Übereinstimmung bei den Fingerabdrücken. Unlängst, ich glaube, bei einer Razzia, wurde eine ganze Reihe von Frauen registriert, die in einem Escort-Ring organisiert sind. Nach außen hin mit einem sauberen, eleganten Anstrich.« Er hüstelte. »Luxusdamen. So verkauft man das wohl heutzutage der zahlungskräftigen Klientel. Auf den ersten Blick scheinen diese Frauen auf eigene Rechnung zu arbeiten.«
»Lass mich raten«, seufzte Durant. »Wenn man lange genug gräbt, führen die Fäden alle in ein gemeinsames Haus und zu denselben Hintermännern.«
Sie kannte das Spiel. In Frankfurt lief es nach demselben Muster.
»Genau so. Und du kannst dir vermutlich denken, dass keine der Frauen etwas preisgegeben hat und dass wir vermutlich auch keine Vermisstenmeldung erhalten werden. Wir sollten wohl dankbar sein, dass wir wenigstens die Personalien feststellen konnten. Bei der Toten handelt es sich um Natalie Marković, einunddreißig Jahre. Die Mutter kam damals mit ihr aus Ex-Jugoslawien hierher. Viel mehr weiß ich noch nicht.«
»Na ja. Wenigstens ein Anfang.« Durant suchte erfolglos nach einem Stift, fand keinen und tappte daher in Richtung Küche, wo sie sich die Daten auf die Rückseite von Claus’ ausgedrucktem Gänserezept notierte. In diesem Moment erklang seine Stimme: »Hast du was gesagt?«
Durant hielt das Mobilteil weg vom Mund und rief: »Peter Brandt ist am Apparat!«
Nasse Schritte patschten in Richtung Küche. Hochgräbe war in seinen Kapuzenbademantel gehüllt. Durant hielt ihm das Telefon hin, er formte ein lautloses Danke mit den Lippen und drückte anschließend die Lautsprechertaste.
»Frohe Weihnachten, Herr Kollege. Was liegt denn an?«
»Ich habe Julia die Identität der Ermordeten mitgeteilt. Eine Edelhure, wenn man das so ausdrücken will.«
»Dachte mir schon so etwas.«
Die beiden wechselten ins Wohnzimmer und nahmen auf dem Sofa Platz. Julia betrachtete verständnislos die nassen Flecke auf dem Boden. Wieso konnte er nicht auf ein Handtuch treten?
»Wir sollten uns im Laufe des Tages abgleichen«, schlug Brandt vor. »Was gibt es denn in Sachen Obduktion?«
Julia musste unwillkürlich lächeln. Theoretisch hätte Peter Brandt das auch direkt bei Andrea Sievers nachfragen können. Lag es wirklich nur daran, dass er die Zuständigkeitsgrenze der beiden Präsidien nicht verletzen wollte, oder rührte es daher, dass einmal mehr zwischen den beiden gewesen war? Sie erinnerte sich noch gut an die Trennung, die ihn weitaus härter getroffen hatte als sie. Andererseits war das viele Jahre her.
Hochgräbe berichtete in ein paar Sätzen vom Auffindeort, dem sexuellen Kontakt und der Strangulation.
»Das mit dem Sex ist ja nun wohl erklärt«, schloss er. »Wir suchen keinen Liebhaber, sondern einen Freier. Und womöglich ist das auch unser Täter.«
»Wie genau läuft das denn ab bei diesen Frauen?«, fragte Durant nach vorn gebeugt, um möglichst nah ins Mikro zu sprechen. »Bucht man übers Internet, ruft man jemanden an, gibt es da irgendein Portal?«
Brandt prustete. »Da fragst du den Falschen! Aber ich bringe euch gerne mit den Leuten von der Sitte zusammen. Es ist sogar jemand, den ihr kennt. Ihr erinnert euch doch noch an Canan Bilgiç?«
Durant wusste sofort, von wem er sprach, und auch in Hochgräbes Gesicht zeichnete sich ab, dass er s