: Andreas Altmann
: Triffst du Buddha, töte ihn! Ein Selbstversuch
: DuMont Buchverlag
: 9783832185046
: 1
: CHF 7.20
:
: Reiseberichte, Reiseerzählungen
: German
: 256
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Andreas Altmann ist das Gegenteil eines Esoterikers: aufgeklärt, kritisch, meinungsfreudig. Aber auch ein rastloser Reiseschriftsteller braucht Momente der Ruhe, um sich zu sammeln. So kam Altmann nach Indien. Was er suchte: Einkehr und Klarheit. Was er fand: Ein Trainingscamp des inneren Friedens. Von Neu-Delhi fährt er nach Varanasi, erkundet die wichtigsten Stätten des Buddhismus - und landet durch Zufall im Meditationszentrum von S.N. Goenka. Seit vierzig Jahren unterrichtet der Guru Buddhas wichtigste Meditationslehre. Jede Form der Ablenkung ist untersagt. Und die Regeln sind streng: Alle mitgebrachten Gegenstände werden eingesammelt, kein Radio, keine Drogen, kein Sex, kein Strom, keine Gespräche. Altmann befolgt alles, nur eines nicht: das Verbot des Schreibens. Und ganz am Ende bewahrheitet sich die Weisheit, dass Buddha lehrt, Buddha zu überwinden. Andreas Altmann hat eine klarsichtige, persönliche und mutige Reportage geschrieben, die auch den Hiergebliebenen die Augen öffnet.

Andreas Altmann lebt als Schriftsteller in Paris. Er hat achtzehn Bücher veröffentlicht, darunter zahlreiche Bestseller. Bei DuMont erschienen:>Reise durch einen einsamen Kontinent< (DuMont Taschenbuch 2017),>Im Land der Regenbogenschlange< (DuMont Taschenbuch 2017),>Sucht nach Leben< (2009),>Im Land der Freien< (2010) und>Triffst du Buddha, töte ihn!< (2010). Andreas Altmann wurde u. a. mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis, dem Seume-Literaturpreis und dem Reisebuch-Preis ausgezeichnet. www.and
SECHSTER TAG (S. 147-148)

Mein gefühltes Alter liegt bei etwa dreihundert. Das hat wohl mit den dreißigtausend Stunden Schlaf zu tun, die mir fehlen. Heute sind es wieder zwei oder drei, die ich meinem Körper raube. Ich kann mich an keinen Tag meines Lebens erinnern, an dem ich nicht mit dem Gedanken aufgewacht bin, dass ich etwas versäume, wenn ich liegenbleibe. Und diese Manie hat sich eingenistet, unbelehrbar. Undöffnete ich in einem Kuhdorf die Augen, irgendwo zwischen Murmansk und dem Nordpol, und hätte ich bereits am Vorabend erfahren, dass nur Kühe auf mich warteten, kein Schwein, kein Ochse, nichts, auch keine Kuhmagd, ich würde aufstehen und die Kühe besuchen. Ich habe keinen treueren Freund als meinen Leib. Auch wenn er murrt, wie immer, aber dann doch um 4.15 Uhr aufsteht und in die Dhamma Hall trottet.

Wir sind um diese Zeit nur noch ein Drittel. Jeden Morgen werden wir weniger. Ob der Rest pflichtgemäß in der Zelle meditiert, wer weiß. Ihre Fenster bleiben verdächtig dunkel. Bewundernswert. Ich beneide jeden, der sein herrischesÜber-Ichüberhört. Doch diese dunklen Stunden, so früh, so leise, verbreiten einen versöhnlichen Zauber. Man sitzt– noch läuft kein Tape mit der Forderung nach letzter Achtsamkeit– und meditiert und spürt, wie ein Tag anfängt, wie das Licht, die Temperatur, die Geräusche zunehmen. Ich schwebe wieder, eine Stunde lang, in der nichts anders sein soll: Sitzen und mit dem Atem den Körper abtasten.

Und alles wahrnehmen und nichts festhalten. Jetzt gerade kann ich es. Weil nichts mich bestürmt. Keine Wut hält mich gefangen, kein beklemmender Gedanke, auch keine Vorfreude, nur Freude. Ichöffne kurz die Augen und begreife wieder, wieästhetisch Vipassana aussieht, wie elegant. Kein Equipment wird verlangt, nur Körper. Sonst nichts. Ich habe schon angedeutet: Jemand entdeckt Meditation, weil er ein Mittel, eine Methode suchte, um die Zahl seiner (künftigen) Verluste zu drosseln. Wer oft genug gegen die Wand gefahren ist, macht sich auf den Weg zu einer Alternative. Wenn er denn entschlossen genug ist.

Andere kommen, weil eine heftige Neugier auf ihre Tiefen und Untiefen sie treibt, auf ihre Widersprüche. Meditation als Mittel, um das Superwunder Mensch zu erforschen. Vieles kann motivieren, auch die Kälte einer von Protzsucht vernagelten Gesellschaft. Was die meisten jedoch gemeinsam haben, ist das, was mein japanischer Zen-Meister»the call« nannte. Er musste es wissen, denn Hunderte hatte er bereits unterrichtet. Er wollte damit sagen, dass jemand eine innere Stimme hören muss.

Penetrant genug, um den Verwirrten anzufeuern. Damit er sich auf den Weg macht. Keinüberirdisches Gewisper, natürlich nicht, auch keinen esoterischen Schmalz von fernen Planetoiden. Nein, eher ein Drängen, verbunden mit einer gewissen Sicherheit, dass die Entscheidung für Meditation die richtige ist. Sie kommt wie für ein Kind, das jemanden Geige spielen hört. Und Tage später mit dem Unterricht beginnt. Wie für einen 30-Jährigen, der sein tausendstes Buch liest und erst jetzt begreift, dass er selbst schreiben will. Mancher Ruf wird sofort vernommen, ein anderer braucht Jahre, um sich Gehör zu verschaffen.