1. Kapitel
Es war das erste Mal, dass sie vom Sterben träumte. Sie lag in einem weißen Hospitalbett, angeschlossen an Zu- und Ableitungen, Sonden und leise piepsende Maschinen. Ihre Augen waren geschlossen, sie wollte sie öffnen, aber es gelang ihr nicht. Ihr Atem dröhnte laut in den Ohren. Doch dann, mit jedem Schlag ihres Herzens, wurde der Atem leiser. Und leiser und leiser …
Es war zwei Uhr, als Therese mit einem erstickten Schrei aufwachte. Ihr Herz raste, ihr Nachthemd war schweißgetränkt. Fragmente des Alptraums liefen wie ein schlechter Film an ihrem inneren Auge vorüber. Sie blinzelte, als könne sie sich so von den Bildern befreien. Zitternd hob sie beide Beine aus dem Bett. Sie zog ihr nasses Nachthemd aus und ging ins Bad.
Aus dem Spiegel starrte sie eine attraktive Endvierzigerin an, mit kräftigen, schön gewölbten Augenbrauen und Augen, die fiebrig glänzten. Sie habe »Schlafzimmeraugen«, hatte ihr einmal ein Mann gesagt. Sie sähe aus wie eine Mischung aus Susan Sarandon und Senta Berger, hatte ein anderer gemeint. Und mehr als einmal hatte sie zu hören bekommen, dass sie eine erotische Ausstrahlung besitze. Auf ihr Aussehen hatte sie sich immer etwas eingebildet. Statt Schlabberbluse und Jeans trug sie lieber eines ihrer zahlreichen Dirndl, die ihre Rundungen vorteilhaft zur Geltung brachten. Den Gästen ihres Gasthauses Goldene Rose gefiel das, auch wenn ihre bunten, fantasievollen Ensembles mit einer echten Tracht nicht viel zu tun hatten.
Schlafzimmeraugen hin, Dirndl her – zu einem Ehemann hatte sie es bisher nicht gebracht. Und nun sah es so aus, als sei der Zug vollends abgefahren.
Sie wollte nicht sterben. Nicht jetzt mit achtundvierzig. Und auch nicht in den darauffolgenden Jahren.
Nachdem sie sich ein frisches Nachthemd angezogen hatte, ging sie noch immer wie in Trance und sich am Geländer festhaltend die Treppe hinab ins Erdgeschoss, wo sich Wohnzimmer und Küche befanden. Von allein fand Thereses rechte Hand den altmodischen Lichtschalter neben der Tür zu ihrer winzigen Küche. Wie immer, wenn sie nachts aufwachte, lauschte sie auf Geräusche, die nicht in die Nacht und in das Haus gehörten. Doch alles war still. Nur in ihrem Inneren tobten Chaos und Tumult.
Eine Tasse Kaffee. Schlafen würde sie wahrscheinlich sowieso nicht mehr können. Mit diesem Gedanken schloss Therese die Verbindungstür auf, die von ihrer Wohnung hinüber in die Gaststätte führte. Die Goldene Rose war ein Lokal mit einem großen Schankraum und etlichen Nebenräumen. Massive dunkelbraune Holzmöbel dominierten das Bild, an den Fenstern hingen rotweiß karierte Gardinen, die Tischläufer waren aus demselben Stoff. Der Chic der Siebzigerjahre, dachte Therese nicht zum ersten Mal. Wie oft hatte sie sich schon vorgenommen, ihre Gasträume hübscher und moderner zu gestalten! Neue Stoffe aussuchen, schöne Kissen nähen für die lange Sitzbank neben dem Kachelofen. Die verstaubten Trockenblumensträuße durch neue ersetzen. Über neue Lampen nachdenken, die alten waren nun wirklich keine Augenweide mehr! Aber immer gab es tausend andere Dinge vorher zu tun. Und allem Anschein nach würde sich das in absehbarer Zeit auch nicht ändern.
In der Gaststube roch es wie immer. Nach Bier, nassen Spüllappen und nach der Rotweinsoße, für die ihr Koch Sam berühmt war.
Während sich die große Kaffeemaschine aufheizte, schaute Therese aus dem Fenster. Am verhangenen Himmel stand ein schwacher Mond. Er und die neuen, orange leuchtenden Laternen, die das Dorf erst im letzten Herbst bekommen hatte, schenkten den Straßen ein heimeliges Licht. Wer hier nachts zu Fuß oder mit dem Auto unterwegs war, fühlte sich sicher. Die Laternen waren eine gute Investition gewesen, befand Therese, auch wenn sie heftig mit dem Gemeinderat darum hatte ringen müssen. Aber als Bürgermeisterin einer Gemeinde, die chronisch knapp bei Kasse war, kannte sie es nicht anders.
In allen umliegenden Häusern war es dunkel, nur im Haus von Magdalena, das auf der anderen Seite des Maierhofener Marktplatzes lag, brannte Licht. Konnte die Bäckersfrau auch nicht schlafen? Oder war dies die normale Zeit, in der sie sich für ihren langen Tag im Backhaus und später in ihrem Laden mit dem Café herrichtete? Therese bildete sich ein, ziemlich viel über die Maierhofener zu wissen, aber wann Magdalenas Arbeitstag begann, wusste sie nicht. Seltsam.
Als der Kaffee durchgelaufen war, nahm sie die Tasse, schaltete alle Lichter wieder aus und ging zurück in ihre Wohnung. Nicht zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, wie klein der quadratische Wohnanbau im Gegensatz zum großen Gasthaus doch war. Wie ein Wurmfortsatz. Ein lästiges Anhängsel. Als wäre den Erbauern des Gebäudes erst nachträglich eingefallen, dass die Wirtsleute ja auch irgendwo wohnen mussten. Die paar Quadratmeter im Erdgeschoss reichten gerade einmal für die winzige Küche und das Wohnzimmer, in dem man sich zwischen Sofa, Bücherschrank und Fernsehtischchen kaum bewegen konnte. Im ersten Stockwerk befanden sich das ehemalige Elternschlafzimmer – heute Thereses Schlafzimmer – und außerdem ein Bad mit Wanne und WC. Der Raum ganz oben unterm Dach war mehr eine Kammer als ein richtiges Zimmer, doch dort hatte Therese ihre Kindheit verbracht.
Während sie den Kaffee trank, schaute sie sich gedankenverloren in ihrem Wohnzimmer um. Von dem dicken Stapel Unterlagen auf dem Couchtisch abgesehen, lag nichts herum. Keine Zeitschrift, kein Strickzeug, nicht einmal die Ohrringe, die sie gestern Abend abgenommen hatte, weil sie an den Ohrläppchen drückten. In ihrem Schlafzimmer sah es nicht anders aus. Die Dirndl hingen fein säuberlich im Schrank, Schmutzwäsche kam sofort in den dafür vorgesehenen Korb, alles hatte seine Ordnung. So war sie es von klein auf gewöhnt. Wehe, sie hatte es als Kind gewagt, eine ihrer Puppen oder anderes Spielzeug unten im Haus herumliegen zu lassen! Da hatte es von ihrer Mutter, von Natur aus eine leicht reizbare Person, schnell Backpfeifen gegeben. Einmal hatte sich Mutter sogar ihre Lieblingspuppe geschnappt und sie in den Mülleimer geworfen. Stundenl