Erstes Kapitel
Bei den Iguazú-Wasserfällen
Clarissa konnte nicht sagen, wie lange sie schon bis zur Taille im tosenden Wasser hing. Verzweifelt klammerte sie sich an den tief hängenden Ästen eines Baumes fest, doch ihre Kräfte schwanden zunehmend. Sosehr die junge Frau auch kämpfte, sie konnte sich nicht mehr halten. Und dieses Mal, das wusste sie, war es endgültig. Sie würde loslassen, der Fluss würde sie unerbittlich in seine Tiefen hinunterziehen und nie wieder hergeben.
Clarissa schloss die Augen. Sofort waren die schrecklichen Bilder zurück, die für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt sein würden: der Ausflug mit Javier zu den Wasserfällen, die fremden Männer, die plötzlich aufgetaucht waren und auf sie, Clarissa, geschossen hatten – um doch Javier zu treffen.
Wie sie in den Fluss gelangt war, konnte sie nicht sagen, nur noch, dass der mächtige Iguazú sie sofort mit sich gerissen hatte. Bis es ihr dann gelungen war, nach diesen Ästen zu greifen. Ein Schluchzen löste sich aus Clarissas Kehle, unhörbar im Gebrüll des Wassers.
Javier ist tot … Welchen Sinn macht es da noch weiterzuleben? Warum lasse ich nicht einfach los?
Ihr Herz wollte sich doch nur fortstehlen zu Javier, allein ihr Körper verweigerte ihr diesen Wunsch, ihr verräterischer Körper kämpfte unerbittlich ums Überleben.
Lange werde ich nicht mehr durchhalten …
Noch während Clarissa dieser Gedanke durch den Kopf fuhr, lösten sich ihre Finger. Sie tauchte unter, schluckte Wasser, kämpfte sich panisch hustend wieder nach oben. Der Fluss riss sie unerbittlich mit sich wie ein Stück Treibholz.
Warum bin ich nicht getroffen worden? Warum bin ich noch hier? Ich will bei Javier sein.
Doch sie hielt den Kopf weiter aus dem Wasser. Sie war eine gute Schwimmerin. Womöglich war das ihr Verhängnis …
Clarissa drehte sich auf den Rücken, erblickte einen Streifen Himmelblau zwischen einem Blätterdach aus vielfachen Grüntönen. Grün, grün, grün – in allen Schattierungen. Grün gefilterte Sonnenstrahlen.
Was wird mit meinen Eltern geschehen? Werde ich sie wiedersehen?
Ein Strudel wirbelte sie herum und zog sie unter die Wasseroberfläche. Sie schlug und trat um sich, schoss endlich wieder nach oben, rang nach Atem, hustete und spuckte, dachte an das Blut, das sie besudelt hatte, Javiers Blut.
Morgen wären sie ein Jahr verheiratet gewesen, ein schwieriges, aber auch ein glückliches Jahr.
Wieder schwappte Wasser über ihr Gesicht. Wieder spuckte und hustete sie. Clarissa war völlig erschöpft, ihre Gedanken bewegten sich schwerfällig.
Javiers Lächeln … seine Wärme. Seine festen Arme um meinen Körper … Nie, nie wieder.
Und plötzlich … Da war mit einem Mal etwas Festes unter ihren Füßen … Boden, schlammiger, von Steinen durchsetzter Boden … Der Geruch modernder Blätter, hier und da eine Berührung, rascher als ein Atemzug. Fische? Doch welche? Und dann sah sie es. Die Strömung hatte sie ans Ufer getrieben. Der Fluss gab sie frei.
Wo bin ich?
Clarissa schloss die Augen. Die Uferböschung, sie musste hinaufrobben … Doch sie war so unendlich müde. Ihre Gedanken flatterten wie wilde Vögel umher, mischten Vergangenes mit der Gegenwart: Javier, die Gesichter ihrer Eltern, Don Jorge, die Arbeit auf dem elterlichenrancho, dem kleinen Bauernhof in der Provinz Entre Ríos. Schüsse, die das Wasser rings um sie aufpeitschen ließen.
Ich will leben.
Nochmals nahm Clarissa alle Kraft zusammen un