: Friedrich Ani
: Bullauge Roman | Ein Psychogramm der Abgehängten | Von hoher politischer Aktualität
: Suhrkamp
: 9783518772133
: 1
: CHF 16.00
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: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 250
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Der Polizist Kay Oleander wurde auf einer Demo mit einer Bierflasche im Gesicht getroffen. Dabei hat er sein linkes Auge verloren. Vom Dienst freigestellt, bringt er sich eher mühsam durch den Tag, bis ihn das Schicksal mit Silvia Glaser zusammenführt. Seit einem Fahrradunfall ist auch sie eine Versehrte. Auf unverhoffte Weise finden die beiden Halt aneinander. Und das, obwohl sie im Verdacht steht, für Oleanders Unglück verantwortlich zu sein. Silvia Glaser fand nach dem Unfall, der ihr Leben völlig auf den Kopf gestellt hat, Zuflucht bei einer rechtspopulistischen Partei. Sie möchte aussteigen, wagt es aber nicht, weil sie Repressalien fürchtet. Als sie von Plänen der Parteispitze zu einem Attentat erfährt, weiht sie Oleander ein. Die beiden beschließen, den Anschlag zu verhindern. Dafür brauchen sie Verbündete, doch die sind für zwei wie sie nicht leicht zu finden ...

Friedrich Ani erzählt mitfühlend und lakonisch die Geschichte zweier Versehrter, die allen Widrigkeiten zum Trotz zueinander finden und sich zusammenraufen, um ein Mal etwas richtig zu machen in einem Leben, das sich schon lange falsch anfühlt.



Friedrich Ani, geboren 1959, lebt in München. Er schreibt Romane, Gedichte, Jugendbücher, Hörspiele, Theaterstücke und Drehbücher. Sein Werk wurde mehrfachübersetzt und vielfach prämiert, u. a. mit dem Deutschen Krimipreis, dem Crime Cologne Award, dem Stuttgarter Krimipreis, dem Adolf-Grimme-Preis und dem Bayerischen Fernsehpreis. Friedrich Ani ist Mitglied des PEN-Berlin.

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Ohne Humor ist alles nichts


Er schaute mir ins Gesicht. Das tat er jedes Mal, wenn er seinen Redefluss unterbrach, einen Schluck Kaffee trank und die Augen zusammenkniff. Als bemerke er etwas an mir zum ersten Mal; als irritiere ihn mein stoisches Dasitzen, meine offensichtliche Gelassenheit; als habe er einen völlig anderen Mann erwartet als den, der vor einer Stunde die Tür geöffnet und ihn wie einen guten Freund hereingebeten hatte.

Wir waren Kollegen, kannten uns lange, hatten eine Menge Einsätze gemeinsam absolviert und – im Vertrauen aufeinander und dank unserer Erfahrung auf der Straße – die eine oder andere Gefahrensituation bewältigt; von enger Freundschaft konnte keine Rede sein. Wir respektierten uns; gelegentlich tranken wir mit anderen Kollegen ein Bier in der Kneipe und saßen bei den Weihnachtsfeiern am selben Tisch.

Auf die Idee, ihn in meine Wohnung einzuladen, wäre ich nie gekommen.

Er hatte mich angerufen und sich nach meinem Zustand erkundigt. Schließlich kündigte er einen Kurzbesuch an, immerhin beträfe die Sache uns beide; seit Wochen hätten wir praktisch kein Wort mehr gewechselt, was er, wie er betonte, sehr bedauere.

Klar, hatte ich gesagt, schau vorbei.

Und da war er und schaute. Schaute mir ins Gesicht, ungefähr alle fünf Minuten, aus schmalen Augen, die Lippen aufeinandergepresst, mit einer Mischung – bildete ich mir ein – aus professionellem Beobachtungszwang und ihn selbst überfordernder Verwirrung. Wie einer, der partout nicht glauben will, was er sieht.

Nach allem, was er von den Kollegen in der Zwischenzeit erfahren haben musste, dürfte ihn mein Aussehen nicht im Geringsten überrascht haben – zumal ich mich nicht in den Buckligen von Notre Dame oder in einen Elefantenmenschen verwandelt hatte. Ich hatte mich überhaupt nicht verwandelt. Ich war derselbe wie vor der Attacke, abgesehen von dem ovalen Filzteil auf meiner linken Gesichtshälfte, das ich trug, um mein Wohlbefinden zu steigern und das mich zudem an alte Zeiten auf hoher See in meinem Kinderzimmer erinnerte. Eine innere Freude, die ich mit niemandem teilte.

»Und es war wirklich nichts, gar nichts zu machen?«

Polizeiobermeister Gillis setzte die Kaffeetasse ab und warf einen Blick auf das Stück Keks-Schichtkuchen, das auf seinem Teller übrig war. »Schmeckt wie früher, der Karierte Affe.« Und er fügte hinzu, als belehre er einen wesentlich Jüngeren: »Meine Großmutter hat den Kuchen immer so genannt, kennst du den Ausdruck?«

»Nein«, log ich.

Mehr noch als schon bei unserer Begrüßung missfiel mir zunehmend sein Aussehen: die vollkommen überflüssige Dienstuniform samt Schusswaffe und Handschellen, dazu die Schirmmütze, die er, als ich die Tür öffnete, pflichtbewusst abgenommen und im Wohnzimmer neben sich auf die Couch gelegt hatte. Das blaue Hemd mit der dunkelblauen Krawatte sah frisch gewaschen und gebügelt aus; sein Lederblouson hatte er anbehalten.

Je länger er dasaß, an seinem Kaffee nippte und mit der Kuchengabel trockene Affenteile zu seinem Mund balancierte, desto weniger gelang es mir, seine Anwesenheit als eine halbwegs angenehme Abwechslung in meinem monotonen Alltag wertzuschätzen. Ihn zu fragen, was ihn – außer meinem Gesundheitszustand oder meinem ihn anscheinend überfordernden Aussehen – in Wahrheit beschäftigte, widerstrebte mir.

Plötzlich kam mir mein Kollege Arno Gillis wie ein Eindringling vor. Pure Neugier, dachte ich, habe ihn getrieben, oder – und dieser Gedanke ärgerte mich sofort – er hatte irgendeine dämliche Wette verloren. Womöglich wäre er deswegen gezwungen gewesen, mir trotz meines eindringlichen Wunsches, eine Zeitlang in Ruhe gelassen zu werden, zwischen zwei Dienstzeiten einen Blitzbesuch abzustatten.

Wetten war eine Art Megahobby einiger Kollegen auf der Dienststelle, inklusive der Frauen. Sie wetteten auf alles, fünf, zehn, fünfzig, hundert Euro. Idiotisches Eifern: Um die Anzahl der an einem Tag erwischten illegal in der Stadt lebenden Ausländer; oder um Falschparker oder die Straßenverkehrsordnung missachtende Radler und E-Scooter-Raser; um die am schnellsten aufflatternde Krähe eines Schwarms in einem Baum; um Hundekothaufen in einem Grünstreifen; um die Menge der Hustenanfälle der kettenrauchenden Kollegin Miriam; um die Zahl der Tore eines Fußballspielers im Lauf eines Monats; um den Promillegehalt des nächsten angehaltenen Verkehrsteilnehmers; oder darum, ob eine Kollegin diesmal friedlich das Wochenende mit ihrem Mann überstand oder ein Kollege sich doch zu etwas breitschlagen ließ, was er zuvor rigoros abgelehnt hatte.

Wie viel hast du verloren?, dachte ich und wartete auf die Wiederholung seiner Frage von vorhin.

»Gar nichts?«, setzte er an. »Die Ärzte haben doch operiert, oder nicht? Oder habe ich das falsch verstanden? Der Chef sagt, du wärst sofort unters Messer gekommen, noch am selben Nachmittag.«

Unser Fünf-Sterne-General, Polizeihauptmeister Wilke, hatte mich einen Tag nach dem Vorfall in der Klinik besucht. Ich war unfähig zu sprechen; nicht, weil ich keine Stimme mehr gehabt hätte; vermutlich stand ich einfach noch unter Schock. Wilke versicherte mir, wir würden den Täter finden und vor Gericht stellen; ich solle mir keine Sorgen um meinen Job machen, alles ließe sich intern regeln; er habe bereits mit dem Präsidium telefoniert. Mich erreichten seine gut gemeinten Worte in einem von Sedativa und Selbstmitleid erzeugten Tunnel. Erst spät in der Nacht liefen mir Tränen über die Wangen, und ich begriff das Wunder nicht: Können tote Augen tatsächlich weinen?

»Zwei Splitter haben die Hornhaut durchbohrt.« Sogar für meine Ohren hörte es sich an, als spräche ich von jemand anderem, einem beliebigen Verkehrsopfer. »Die Iris wurde verletzt, die Linse auch, das wäre möglicherweise operabel gewesen. Aber der Augapfel wurde vom Sehnerv getrennt.«

Gillis schaute mich wieder an. Neues würde er nicht entdecken.

»Also habe ich jetzt ein Auge weniger.«

»Aber …«

»Das heißt, das Auge ist noch da, unter der Klappe, aber halt erloschen, oder wie man das nennt.«

»Aber …«

»Ich hatte Pech«, sagte ich, zurückgelehnt im Sessel, zufrieden im Bewusstsein, dass ich in maximal fünfzehn Minuten die Tür wieder hinter meinem Kollegen schließen würde. »Wer immer die Flasche geworfen hat, er landete einen Volltreffer.«

»Wir hätten dich schützen müssen.«

»Unmöglich in dem Tumult. Die Leute sind plötzlich ausgerastet.«

»Jedenfalls sitzen die beiden Typen in U-Haft. Wenn’s die Staatsanwältin hinkriegt, kommen sie wegen versuchten Mordes vor Gericht und nicht nur wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und schwerer Körperverletzung.«

Auf den Aufnahmen, die ich bisher gesehen hatte, warf einer der beiden Männer eine Bierflasche auf Höhe des Spielwarengeschäfts am Karlsplatz in die Phalanx der Einsatzkräfte.

Eindeutig.

Allerdings ungefähr zweihundert Meter von der Stelle entfernt, an der ich verletzt worden war.

Der zweite Verdächtige hatte anfangs seine Beteiligung bestritten. Dann tauchten die Bilder einer städtischen Überwachungskamera auf; darauf war zu sehen, wie er eine Null-Komma-drei-Liter-Flasche aus dem Anorak zieht und diese über die Köpfe der Demonstranten hinweg in eine Gruppe von Polizisten schleudert. In den Vernehmungen gab er an, er wäre von der U-Bahn am Lenbachplatz ins Stadtzentrum gelaufen. Eine Kamera der Verkehrsbetriebe hatte einen rennenden jungen Mann gefilmt, auf den die Beschreibung des Verdächtigen passte. Kein überzeugender Beweis.

Problem: Sollte der Kerl die Wahrheit gesagt haben, wäre es ziemlich unwahrscheinlich, dass er, aus nördlicher Richtung kommend, sich durch den Pulk der vor dem Karlsplatz dicht gedrängt stehenden Demonstranten seinen Weg gebahnt hätte, um von der anderen Seite die Polizei anzugreifen, also uns. Mich.

Absolut...