: Gavin Extence
: Das unerhörte Leben des Alex Woods oder warum das Universum keinen Plan hat Roman
: Limes
: 9783641118457
: 1
: CHF 8.10
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: Erzählende Literatur
: German
: 496
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine Geschichte, die erzählt, wie besonders Freundschaft sein kann
Alex Woods ist zehn Jahre alt, und er weiß, dass er nicht den konventionellsten Start ins Leben hatte. Er weiß auch, dass man sich mit einer hellseherisch begabten Mutter bei den Mitschülern nicht beliebt macht. Und Alex weiß, dass die unwahrscheinlichsten Ereignisse eintreten können - er trägt Narben, die das beweisen.
Was Alex noch nicht weiß, ist, dass er in dem übellaunigen und zurückgezogen lebenden Mr. Peterson einen ungleichen Freund finden wird. Einen Freund, der ihm sagt, dass man nur ein einziges Leben hat und dass man immer die bestmöglichen Entscheidungen treffen sollte.
Darum ist Alex, als er sieben Jahre später mit 113 Gramm Marihuana und einer Urne voller Asche an der Grenze in Dover gestoppt wird, einigermaßen sicher, dass er das Richtige getan hat ...

Gavin Extence, geboren 1982, wuchs in der englischen Grafschaft Lincolnshire in einem kleinen Dorf mit dem interessanten Namen Swineshead auf. In seiner Kindheit machte er eine kurze, aber glanzvolle Karriere als Schachspieler; er gewann zahlreiche nationale Turniere und reiste nach Moskau und St. Petersburg, um sich dort mit den besten jungen Denkern Russlands zu messen. Er gewann nur ein Spiel.

Mit seinem Debütroman »Das unerhörte Leben des Alex Woods« schrieb er sich in die Herzen von Lesern und Kritikern gleichermaßen. Der Roman wurde in Großbritannien mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, eroberte auch in Deutschland die Bestsellerliste und gehört zu den meistempfohlenen Büchern 2014. Sein lang erwarteter zweiter Roman »Libellen im Kopf« ist 2016 erschienen.

Heute lebt Gavin Extence mit seiner Familie in Sheffield.

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Iridium-193

Ich könnte mit meiner Zeugung anfangen. Meine Mutter war förmlich begierig darauf, sichüber diesen Aspekt meiner Existenz auszulassen– vermutlich, weil sie mir so wenigüber meinen Vater erzählen konnte. Sie wollte es irgendwie wiedergutmachen. Es ist eine ganz interessante Geschichte, wenn auch etwas seltsam und ein bisschen unangenehm, aber ich bin nicht sicher, ob dies der beste Anfang wäre. Es ist auf jeden Fall nicht der bedeutsamste Zeitpunkt. Vielleicht werde ich später noch darauf zurückkommen.

Es gibt einen näherliegenden Moment, mit dem meine Geschichte beginnt: der Unfall, der mir widerfuhr, als ich zehn Jahre alt war. Vermutlich wissen Sie schon, was ich meine, oder haben zumindest etwas darüber gehört. Die Sache war wochenlang das Topthema in allen Nachrichten auf der ganzen Welt. Aber das ist mehr als sieben Jahre her. Menschen haben ein kurzes Gedächtnis, doch da dieses Ereignis die Richtung bestimmte, in der mein Leben verlaufen sollte, kann ich es schlecht ignorieren.

Ich nenne es Unfall, weil mir kein passenderes Wort dafür einfällt, aber es trifft die Sache nicht wirklich. Ich bin nicht sicher, ob esüberhaupt ein passendes Wort dafür gibt. Die Presse sprach von einem»außergewöhnlichen Ereignis« oder von einem»in der Menschheitsgeschichte einzigartigen Vorfall«– obwohl sich das als nicht ganz zutreffend herausstellte. In den zwei Wochen, in denen ich bewusstlos war, wurden wohl Hunderttausende von Wörtern darüber geschrieben, und das ist für mich das Merkwürdigste an der ganzen Angelegenheit. Das Letzte, woran ich mich mit Gewissheit erinnern kann, ist ein Schulausflug in den Zoo von Bristol, wo man mich dafür tadelte, dass ich versuchte, einen Klammeraffen mit einem Marsriegel zu füttern. Das war mehr als zwei Wochen, bevor ich ins Krankenhaus kam. Eine Menge dessen, was ich Ihnen jetzt erzähle, musste ich daher aus den Berichten anderer Leute zusammensetzen, aus den Zeitungsartikeln, die ich später las, aus den Erklärungen derÄrzte und Wissenschaftler, die während meiner Genesung mit mir redeten, und von den Tausenden Augenzeugen, die sahen, was mich traf, nur wenige Momente, bevor es mich traf. Viele dieser Augenzeugen schrieben mir oder meiner Mutter, als klar wurde, dass ich es schaffen würde, und wir haben all diese Briefe aufgehoben. Zusammen mit den Hunderten von Zeitungsausschnitten ergeben sie ein knapp zehn Zentimeter dickes Album, das ich bestimmt ein Dutzend Mal durchgelesen habe. Mittlerweile weiß ich genauso viel darüber, was mit mir geschehen ist, wie jeder andere, aber all das Wissen stammt nur aus zweiter Hand. Was meine persönliche Erinnerung an den Vorfall betrifft: Da ist nichts. Ich war vermutlich der letzte Mensch auf diesem Planeten, der erfuhr, was mit mir geschehen war. Und das war am 3. Juli 2004, einem Samstag, an dem ich im Yeovil-Bezirkskrankenhaus aufwachte und feststellte, dass ich gerade einen ganzen Monat meines Lebens verloren hatte.

Als ich zu mir kam, dachte ich erst, ich sei im Himmel. Ich nahm an, es müsste der Himmel sein, weil alles so schmerzvoll weiß war. Nach einigen Zuckungen wurde mir klar, dass ich immer noch Augen und funktionierende Augenlider besaß, obwohl ich mein irdisches Dasein hinter mir gelassen hatte, und dass ich für den Bruchteil einer Sekunde durch die zusammengekniffenen Augen blinzeln konnte– was mir ratsam erschien, bis sich meine Augen an das Milliarden-Watt-starke Leuchten des Jenseits gewöhnt hatten.

In der Schule hatten wir hin und wieder etwasüber den Himmel erfahren, und während der Versammlungen sangen wir darüber, aber ich war mir nie sicher gewesen, ob es ihn tatsächlich gab, bis ich selbst im Himmel aufwachte. Ich hatte keine religiöse Erziehung genossen. Meine Mutter glaubte nicht an den Himmel. Sie glaubte an eine unsichtbare Geisterwelt, in die wir eingingen, wenn wir starben. Diese Welt war nicht vollständig von der Welt der Lebenden getrennt. Es war lediglich eine andere Existenzebene, und obwohl wir sie nicht sehen, riechen oder berühren konnten, gingen ständig Nachrichten von dort bei uns hier ein. Meine Mutter verdiente ihren Lebensunterhalt, indem sie diese Nachrichten interpretierte. Sie war»empfänglich« für jene andere Welt, auf eine Weise, die nur wenigen vergönnt war. Ich stellte mir das immer so vor wie eine Art Radio: Sie hatte Empfang, während wir anderen nur statisches Rauschen hörten.

Aber ich war mir ziemlich sicher, dass ich im Himmel gelandet war und nicht bloß auf einer anderen Existenzebene. Als weiteren Beweis für meine Hypothese erblinzelte ich mir das Bild von zwei Engeln– einer blond, der andere dunkelhaarig, beide in Türkis gewandet–, die rechts und links von mir schwebten. Allerdings war mir nicht klar, was sie da taten. Ich entschied, dass dies genauer untersucht werden musste, und zwang mich, den Schmerz zu ignorieren und meine Augen weit aufzureißen. Woraufhin der blonde Engel einen Satz rückwärts machte und einen ohrenbetäubenden, schrillen Schrei ausstieß. Dann spürte ich ein scharfes Ziehen, hatte aber keine Ahnung, was es war. Ich schloss wieder die Augen.

»Oh Scheiße!«, sagte der blonde Engel.»Scheiße, Scheiße, Scheiße!«

Da merkte ich, dass ich eine linke Hand hatte, denn der blonde Engel hatte sie gepackt.

»Herrgott noch mal, was ist denn los, zum Teufel?«, fragte der dunkelhaarige Engel.

»Er ist wach! Hast du’s nicht gesehen?«

»Er istwach? Scheiße, ist das Blut?«

»Die Kanüle ist rausgerutscht!«

»Sie istrausgerutscht

»Er hat mich zu Tode erschreckt! Es war ein Unfall!«

»Das ganze Bettzeug ist voll Blut!«

»Ich weiß! Ich weiß! Aber es sieht schlimmer aus, als es ist. Hol Patel– aber schnell! Ich muss hierbleiben und das Blut abdrücken.«

Ich hörte schnelle Schritte, und nur ein paar Augenblicke später sprach die Stimme eines Mannes zu mir. Sie war tief, ruhig und befehlsgewohnt.