: Tess Gerritsen
: Todsünde Ein Rizzoli-&-Isles-Thriller
: Limes
: 9783641093372
: &-Isles-Serie
: 1
: CHF 8.10
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: Erzählende Literatur
: German
: 432
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Weihnachten naht, und in Boston herrscht klirrende Kälte. In einem Kloster nahe der Stadt ist die Novizin Camille Maginnes brutal erschlagen worden. Bei der Autopsie findet die Pathologin Maura Isles heraus, dass die junge Frau kurze Zeit vor ihrem Tod entbunden haben muss - doch von dem Kind fehlt jede Spur. Dann wird eine zweite Frauenleiche gefunden, bei der Maura Anzeichen für eine frühere Lepra-Erkrankung feststellt. Detective Jane Rizzoli, die mit den Ermittlungen betraut wird, und Maura Isles vermuten eine Verbindung der beiden Fälle. Und die Entdeckung eines grausamen Geheimnisses gibt Jane und Maura auf schreckliche Weise Recht ...

So gekonnt wie Tess Gerritsen vereint niemand erzählerische Raffinesse mit medizinischer Detailgenauigkeit und psychologischer Glaubwürdigkeit der Figuren. Bevor sie mit dem Schreiben begann, war die Autorin selbst erfolgreiche Ärztin. Der internationale Durchbruch gelang ihr mit dem Thriller »Die Chirurgin«, in dem Detective Jane Rizzoli erstmals ermittelt. Seither sind Tess Gerritsens Thriller um das Bostoner Ermittlerduo Rizzoli& Isles von den internationalen Bestsellerlisten nicht mehr wegzudenken. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Maine.

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Man nannte sie die»Königin der Toten«.

Zwar wagte es niemand, den Spitznamen in ihrer Gegenwart auszusprechen, doch ab und zu hörte sie, wie sich die Leute ihn hinter ihrem Rücken zuflüsterten, wenn sie zwischen Tatort, Leichenschauhaus und Gerichtssaal ihrem düsteren Geschäft nachging. Bisweilen konnte sie einen Unterton von finsterem Sarkasmus aus den Kommentaren heraushören:Ach, sieh da, die Herrin der Unterwelt holt wieder eine arme Seele in ihr Reich! Manchmal schwang auch ein nervöses Tremolo in den geflüsterten Bemerkungen mit, wie in dem Getuschel der Frommen, wenn ein gottloser Fremder vorübergeht. Es war die Unruhe derer, die nicht begreifen konnten, warum sie freiwillig in den Fußstapfen der Toten wandelte.Macht ihr das vielleicht Spaß?, fragten sie sich.Übt die Berührung von erkaltetem Fleisch, der Geruch der Verwesung einen solchen Reiz auf sie aus, dass sie dafür den Lebenden den Rücken kehrt? Sie finden das einfach nicht normal– sie werfen ihr verstörte Blicke zu und registrieren Details, die sie nur in ihrerÜberzeugung bestärken, dass sie ein ziemlich schräger Vogel ist. Die elfenbeinfarbene Haut, das rabenschwarze Haar mit dem schlichten Kleopatra-Schnitt; die grellrot geschminkten Lippen, wie eine blutige Wunde. Wer außer ihr trägt denn zu einer Leichenuntersuchung Lippenstift? Aber vor allem ist es ihre unerschütterliche Ruhe, die diese Beobachter beunruhigt, die kühle, hoheitsvolle Miene, mit der sie einen grausigen Anblick aufnimmt, bei dem sich ihnen selbst der Magen umdreht. Im Gegensatz zu ihnen wendet sie sich nicht angewidert ab. Im Gegenteil, sie beugt sich herab, geht ganz nahe heran, tastet– und schnuppert.

Und später schwingt sie dann unter den grellen Lampen ihres Autopsiesaals das Skalpell.

So wie jetzt. Ruhig führte sie die Klinge durch die gekühlte Haut, durch das gelblich glänzende subkutane Fett. Ein Mann, der eine Vorliebe für Hamburger und Pommes frites gehabt hatte, dachte sie, als sie zu einer gewöhnlichen Gartenschere griff, um die Rippen zu durchtrennen und den dreieckigen Schild des Brustbeins anzuheben, wie man die Tür eines Tresorsöffnet, um an die darin verborgenen Juwelen heranzukommen.

Das Herz lag in seinem schwammigen Bett aus Lungengewebe. Neunundfünfzig Jahre lang hatte es das Blut durch die Adern von Mr. Samuel Knight gepumpt. Es war mit ihm gewachsen, mit ihm gealtert, hatte sich verändert in dem Maße, wie aus seinem einst jugendlich-muskulösen Körper allmählich diese Ansammlung von Fettpolstern geworden war. Jede Pumpe versagt irgendwann den Dienst, so auch das Herz in Mr. Knights Brust. Er hatte in seinem Hotelzimmer in Boston vor dem Fernseher gesessen, ein Glas Whisky aus der Minibar neben sich auf dem Nachttisch, als es seinen letzten Schlag getan hatte.

Sie stellte keine Spekulationen darüber an, welches seine letzten Gedanken gewesen waren, oder ob er vielleicht Schmerzen oder Angst empfunden hatte. Auch wenn sie seinen Körper in allen intimen Einzelheiten erkundete, auch wenn sie seine Haut aufschlitzte und sein Herz in den Händen hielt, blieb Mr. Samuel Knight für sie ein Fremder– stumm und anspruchslos, bereit, ihr seine sämtlichen Geheimnisse zu offenbaren. Die Toten sind geduldig. Sie beklagen sich nicht, sie drohen und sie schmeicheln nicht.

Die Toten verletzen uns nicht; das tun nur die Lebenden.

Mit ruhigen, effizienten Bewegungen schnitt sie nun die Thoraxorgane heraus und legte das Herz vorsichtig in eine Schale. Draußen fiel der erste Schnee des Dezembers, kleine weiße Flocken, die mit leisem Knistern an die Fensterscheiben prasselten und sich auf den Asphalt senkten. Doch hier im Labor waren die einzigen Geräusche das Plätschern des Wassers und das Surren des Ventilators. Mauras Assistent Yoshima glitt lautlos durch den Raum; es war beinahe unheimlich, wie er ihren Anweisungen zuvorkam und immer dann an ihrer Seite auftauchte, wenn sie ihn brauchte. Sie arbeiteten erst anderthalb Jahre zusammen, und doch funktionierten sie schon wie ein einziger Organismus, verbunden durch die Telepathie zweier logisch denkender Gehirne. Sie musste ihn nicht bitten, die Lampe neu auszurichten– es war bereits passiert: Der Lichtstrahl fiel auf das bluttriefende Herz, und die Schere hielt er auch schon in der Hand, sie musste sie nur noch entgegennehmen.

Die dunkel gefleckte Wand der rechten Herzkammer und die weißliche Narbe an der Spitze des Organs erzählten ihr die traurige Geschichte dieses Herzens. Durch einen Myokardinfarkt, der sich vor Monaten oder gar Jahren ereignet hatte, war bereits ein Teil der linken Ventrikelwand zerstört worden. Und irgendwann innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden war es dann zu einem neuerlichen Infarkt gekommen. Eine Thrombose hatte die rechte Koronarar