: Ronald H. Balson
: Esthers Verschwinden Roman
: Aufbau Verlag
: 9783841228253
: 1
: CHF 4.40
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 448
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Einst versprach er, sie zu retten. Nun ist die Zeit der Vergeltung gekommen. 

Deu schland, 1946: Eli Rosen und sein Sohn sind knapp dem Tod entkommen und warten in einem Lager für Displaced Persons auf ein Visum nach Amerika. Eli setzt alles daran, an Informationen über seine Frau zu gelangen. Esther verschwand im besetzen Polen, als er versuchte, seine Familie mit einem Pakt vor den Deutschen zu retten.

Chicago, 1965: Mithilfe einer Journalistin versucht Eli, ein Komplott aufzudecken, das bis ins Polen der Kriegsjahre reicht. Und endlich kommt er der Wahrheit um das Verschwinden seiner Frau näher. 

»< em>Ein fesselnder Roman über die jahrzehntelangen Folgen des Holocausts.«Pam Jenoff, Autorin von »Die Frauen von Paris«



Ronald H. Balson ist Rechtsanwalt, und seine Fälle führten ihn um die ganze Welt, unter anderem nach Polen. Heute lebt und schreibt er in Chicago. Im Aufbau Taschenbuch liegen seine Romane »Karolinas Töchter«, »Hannah und ihre Brüder« und »Ada, das Mädchen aus Berlin« vor. Gabriele Weber-Jari? lebt als Autorin und Übersetzerin in Berlin. Sie übertrug u. a. Mary Morris, Mary Basson, Kristin Hannah und Imogen Kealey ins Deutsche.

Kapitel 3


Reims, Mai 1945


Die Zusammenkunft fand am 7. Mai 1945 im einfachen Rahmen des Collège Moderne et Technique von Reims statt, dem Hauptquartier der Alliierten ExpeditionsstreitkräfteSHAEF. Dort unterzeichnete Generaloberst Alfred Jodl im Namen des deutschen Oberkommandos morgens um 2 Uhr 41 die Urkunde der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands.

Wir, die hier Unterzeichneten, handelnd in Vollmacht für und im Namen des Oberkommandos der deutschen Wehrmacht, erklären hiermit die bedingungslose Kapitulation aller am gegenwärtigen Zeitpunkt unter deutschem Befehl stehenden oder von Deutschland beherrschten Streitkräfte auf dem Lande, auf der See und in der Luft gleichzeitig gegenüber dem Obersten Befehlshaber der Alliierten Expeditions-Streitkräfte und dem Oberkommando der Roten Armee.

Für dasSHAEF unterschrieb Eisenhowers Stabschef General Walter Bedell Smith.

Der Krieg in Europa war beendet.

Die Gefangenen der Konzentrationslager waren befreit worden. Allerdings hatten der Krieg und seine Folgen viele von ihnen heimatlos gemacht. Eine Zeit lang wanderten diese entwurzelten Menschen hilflos und ziellos umher.

Schließlich kümmerte sich die Welthilfsorganisation United Nations Relief and Rehabilitation Administration, oderUNRRA, die im Jahr 1943 gegründet worden war, um sie. Ihre erste Aufgabe war die Erfassung der Überlebenden, die Displaced Persons oderDPs genannt wurden. Vertriebene.

In Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich wurden Lager für sie errichtet.

Die Mehrheit der befreiten Juden suchte den Schutz der United States Army. Sie zog es in die Auffanglager der von den Amerikanern besetzten Gebiete in Deutschland. Dort übernahm dieUNRRA ab 1945 die Verwaltung, mit der Maßgabe, den Bewohnern Wohnraum, Nahrung, Kleidung, Arzneien und alles, was zu ihrem Grundbedarf gehörte, zur Verfügung zu stellen. Eines der größtenDP‑Lager war Föhrenwald. Es lag in Oberbayern, in den Ausläufern der Alpen, eingebettet in sanft gewellte, bewaldete Hänge.

DP-Lager Föhrenwald, Juni 1946


Die Tür des kleinen Holzhauses in der Florida Straße flog auf. Ein Junge mit dunklem Haar kam hereingestürmt. Sein Name war Isaak. Er war zu dünn, aber voller Energie. »Papa«, rief er, »ich muss dir was erzählen.«

Eli lächelte. »Was denn?«

»Herr Abrams ist in die Schule gekommen, um uns beizubringen, wie man einen Aufsatz schreibt. Nach der Stunde hat er Josh und mich gefragt, ob wir ihm morgen Nachmittag helfen, die Zeitung auszutragen.«

»Du meinstBamidbar, die Lagerzeitung?«

»Ja,Bamidbar. Vielleicht bezahlt er uns wieder mit Schokolade.«

Eli tätschelte Isaaks Wange. »Was für ein Geschäftsmann du bist. Iss die Schokolade nicht ganz auf, wenn ihr die Zeitungen ausgetragen habt. Und komm anschließend sofort nach Hause, wo die Schularbeiten warten.«

Isaak seufzte.

»Wie gefällt dir Frau Klein, eure neue Lehrerin?«

Isaak zuckte mit den Schultern. »Sie ist in Ordnung. Kommt aus Israel und unterrichtet Hebräisch, Jiddisch und Englisch. Bei ihr muss man sich anstrengen.«

»Jiddisch kannst du doch.«

»Ja, aber kein Englisch und Hebräisch. Englisch kann ich wenigstens schreiben, weil die Buchstaben wie im Polnischen sind. Aber Frau Klein hat gesagt, dass ich die hebräischen Buchstaben langsam auch richtig male. Wir haben Kinder in der Klasse, die sich im Krieg im Wald oder im Untergrund versteckt haben und noch nie in der Schule waren. Sie können weder lesen noch schreiben.«

Eli drückte seinen Sohn an sich und war zutiefst dankbar, dass der Junge, der so viel durchgemacht hatte, wieder so eifrig und unbeschwert sein konnte. »Ich muss morgen Abend zu einer Versammlung des Lagerkomitees und komme wahrscheinlich spät zurück. Vorher stelle ich dir etwas zu essen hin.«

»Aber wenn du wieder da bist, kommst du noch mal zu mir. Egal, wie spät es ist.«

»Das tue ich doch immer.«

*

Das Lagerkomitee traf sich in einem Saal am Roosevelt Square. Auf der Tagesordnung stand der Mangel an Unterkünften. Zu den Teilnehmenden gehörten die Mitglieder des Lagerkomitees, ein Vertreter derUNRRA namens Martin und Bewohner des Lagers, denen die Versammlungen die Möglichkeit boten, ihre Beschwerden zu äußern. Dabei ging es mitunter heiß her. Für Eli sollte dieser Abend eine besondere Bedeutung erhalten.

Die Leitung hatte Bernard Schwartz, ein kräftiger, bärtiger Mann aus Ostpolen. Er bat um Ruhe und erteilte einem Bewohner namens Harry das Wort.

Harry, ein magerer Mann mit schütterem weißem Haar, stand auf und schwenkte eine Liste, die mehrere Seiten umfasste. »Im Lager leben mittlerweile 5600 Menschen. Auch mit den umgebauten Verwaltungsgebäuden fehlt uns nun Platz für 2000 Personen. Dies war einmal eine Arbeitersiedlung der Sprengstoff- und Munitionsfabriken der I. G. Farben, die für maximal 3200 Arbeiter angelegt wurde. Doch wir schlafen teils zu fünft in einem Raum auf Stockbetten und müssen unbedingt neue Häuser bauen.«

Martin, der Vertreter derUNRRA, schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber neue Häuser sind nicht vorgesehen. Föhrenwald ist ein Durchgangslager, bis die Leute, die hier leben, ein neues Zuhause gefunden haben.«

Harry seufzte. »Dann bitten Sie die alliierten Behörden, uns Einreisevisa auszustellen. Wenn wir die haben, werden Sie hier keinen Menschen mehr finden. Aber bis dahin brauchen wir Baumaterial, um Häuser zu errichten. Eli Rosen kennt sich aus, in Polen hatte er eine Baufirma. Er kann bei den Neubauten die Leitung übernehmen.«

Martin hob die Schultern. »Ich kann das weiter oben vortragen, weiß aber jetzt schon, was ich dann hören werde. DieUNRRA hat kein Geld, um in Deutschland neu zu bauen. Man wird mich darauf hinweisen, dass die Anzahl der Bewohner schneller als erwartet gestiegen ist, was unter anderem daran liegt, dass es immer mehr Geburten gibt.«

Die Anwesenden begannen, aufgebracht zu murmeln.

Dann sagte jemand: »Er hat recht. Im Krankenhaus kommen im Monat sechs bis neun Kinder zur Welt, und rund 200 Frauen sind zurzeit schwanger. Aber wenn wir mehr werden, brauchen wir auch mehr Platz.«

Schwartz war der gleichen Meinung. »Nach allem, was wir hinter uns haben, sehnen wir uns nach einem normalen Leben. Die Leute verlieben sich, heiraten, tun wieder das, was ihnen in den Lagern verwehrt war. Und natürlich gehören zum normalen Leben auch Kinder. Kinder stehen für unsere Zukunft, sie geben uns Hoffnung und Mut.«

»Ich bin nur ein Vertreter derUNRRA«, sagte Martin. »Ich bestimme weder die Politik noch das Budget der Organisation. Ich werde eure Bitte weiterleiten, kann euch aber jetzt schon sagen, dass für den Ausbau des Lagers kein Geld vorgesehen ist. Uns geht es darum, für euch eine neue Heimat zu finden und euch hier herauszuholen.«

Harry schnaubte verächtlich. »Und wie soll das ohne Visa gehen? Sagen Sie Präsident Truman, er soll mehr von uns einreisen lassen.«

Ein blasser Mann mit eingefallenen Wangen meldete sich. Sein Name war Daniel. »Dazu möchte ich etwas sagen.« Als alle ihn ansahen, wirkte er verlegen, sprach aber weiter. »Es gibt Gerüchte, die besagen, dass jemand Visa verkauft.«

»Was heißt...