Kapitel 1
Glasgow, Schottland
Meine Musik erfüllte die Luft. Sie war wie ein Kokon aus Melodie und Vertrautheit in dieser mir teilweise immer noch fremden Stadt.
Der Himmel über der Buchanan Street war bedeckt. Die grauen Wolken verliehen den hellen Gebäuden einen beinahe silbrigen Glanz und ließen das leuchtende Rot der Sandsteinfassaden, die zum typischen Stadtbild von Glasgow gehörten, weniger grell erscheinen. Ich machte Straßenmusik und hatte mir dafür wie immer einen Platz in der Haupteinkaufsmeile im Zentrum gesucht, in gebührendem Abstand zu dem hinter mir liegenden Laden, damit ich nicht den Unmut der Angestellten erregte, aber zugleich weit genug vom Strom der Passanten entfernt, sodass ich niemandem im Weg war. Ich spielte auf meiner über alles geliebten Taylor-Akustikgitarre und sang dazu. Im Gegensatz zu einigen meiner Konkurrenten besaß ich weder Verstärker noch Mikrofon und musste mich daher ganz auf meine Stimme und mein Gitarrenspiel verlassen, um Publikum anzulocken.
In Glasgow hatte ich nie das Gefühl, den Menschen mit meiner Performance auf die Nerven zu gehen. Nur wenn ich sang, kam ich mir nicht wie ein Fremdkörper vor, sondern wie ein Teil dieser Stadt, die weithin für ihre Liebe zur Musik bekannt war. Wenn der rote Sandstein Glasgows Haut bildete, dann war die Musik ihr Herzschlag. Ich hatte mich damit abgefunden, ganz unten angekommen zu sein, doch die Freude, etwas zu dem Rhythmus beitragen zu dürfen, der die Seele der Stadt zum Pulsieren brachte, ließ ich mir nicht nehmen. Ich spürte sie tief in meinem Innern.
Manchmal, wenn ich gute Laune hatte und bekannte Popsongs interpretierte, versammelte sich eine beachtliche Schar von Zuhörern um mich. Am besten war es immer an Samstagen wie heute, denn da waren viele Menschen unterwegs und bummelten gemütlich durch die Straßen, statt nach der Mittagspause zurück ins Büro zu hetzen.
Doch meistens gingen die Leute einfach weiter – selbst diejenigen, die mir Geld zusteckten. Ich hatte sogar einige Stammgäste, die mir regelmäßig ein paar Münzen in den Gitarrenkoffer warfen, ohne dabei jemals stehen zu bleiben. Nicht, dass ich etwas dagegen hatte: Anders als meine Kollegen mit ihrem teuren Equipment war ich auf Bares angewiesen. Ich stand nicht hier, weil ich darauf wartete, »entdeckt« zu werden, nachdem mein bester Freund mich mit dem Smartphone gefilmt und den Clip dann auf meinen YouTube-Kanal hochgeladen hatte. Ich machte Straßenmusik, damit ich abends etwas zu essen hatte. An guten Tagen blieb mir sogar noch Geld fürs öffentliche Schwimmbad übrig, wo ich duschen und mir die Haare föhnen konnte. An allen anderen Tagen musste ich mich mit einer Katzenwäsche zufriedengeben. Danach zog ich mich in meinem Zelt aus und reinigte mich notdürftig mit Feuchttüchern.
Ich schaute in meinen Gitarrenkoffer und atmete auf. Gott sei Dank. Heute würde es höchstwahrscheinlich für einen Schwimmbadbesuch reichen.
Ich nickte zwei jungen Mädchen zu, die mir gerade etwas Kleingeld in den Koffer gelegt hatten, und sang weiter. Passend zum Wetter hatte ich mich für ein eher melancholisches Lied entschieden: »Someone Like You« von Adele. Das war ein echter Publikumsmagnet, den ich immer dann anstimmte, wenn ich besonders knapp bei Kasse war. Mein Tonumfang war groß genug für Adele, aber auch ein noch so beeindruckender Tonumfang nützte nichts, wenn