: Arshaluys Mardigian
: ... meine Seele sterben lassen, damit mein Körper weiterleben kann Ein Zeitzeugenbericht vom Völkermord an den Armeniern 1915/16
: zu Klampen Verlag
: 9783866747722
: 1
: CHF 16.20
:
: Biographien, Autobiographien
: German
: 260
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Unmittelbar nachdem sie 1917 den Türken entkommen ist, beginnt Arshaluys Mardigian als eine der wenigen Überlebenden des Völkermords an den Armeniern, von ihren Erfahrungen während des Genozids zu berichten. Ihr authentischer Augenzeugenbericht wurde seit seiner Erstveröffentlichung 1918 bereits in zwanzig Sprachen übersetzt und 1919 erfolgreich verfilmt; sie selbst spielte in dem Stummfilm die Hauptrolle. Der Leidensweg des Mädchens erscheint nun nach hundert Jahren erstmals auf Deutsch und lässt uns auch hierzulande, wo eine gründliche historische Aufarbeitung des türkischen Völkermords an den Armeniern nach wie vor aussteht, die Schrecken jener Ereignisse erahnen. Schonungslos und eindringlich erzählt Arshaluys Mardigian von ihren Erlebnissen während der Todesmärsche, der Gefangenschaft in den Häusern reicher Türken, den Raubzügen kurdischer Reiter, den Massakern an ihrem Volk, ihrem sechsmonatigen Umherirren in der Steppe und schließlich ihrer Rettung und Übersiedlung nach Amerika.

Arshaluys Mardigian wird 1901 in Ostarmenien als Bankierstochter geboren. Mardigians Vater und Bruder werden bei einem Massaker an armenischen Christen getötet. Während der Todesmärsche verliert sie die verbliebenen Familienmitglieder. 1917 kann sie in die Vereinigten Staaten fliehen. In New York betreibt sie Aufklärungsarbeit zum Völkermord in Armenien und schreibt ihre Geschichte in dem Buch »Ravished Armenia« (1918) auf, was großes Aufsehen erregt. Sie stirbt 1994 in Los Angeles. Nach ihr wurde der »Aurora-Preis zur Förderung der Menschlichkeit« benannt, der jährlich von der Aurora Humanitarian Initiative vergeben wird.

H. L. Gates1


Prolog
Arshaluys – das Licht des Morgens


Da, auf dem Gipfel eines Berges im Taurusgebirge, stand er, der alte Schäfer Vartabed, dessen Schafherden mit ihrer Wolle schon drei Generationen eingekleidet hatten. Deutlich hoben sich die Umrisse seiner hohen Gestalt vom Himmel ab. Ruhig stand er da und ungebeugt. In sein ernstes, ausdrucksstarkes Gesicht hatte das Alter bereits tiefe Furchen gezogen, aber seine Hände hielten den Hirtenstab ganz entspannt; er legte Wert darauf, sich nicht darauf zu stützen.

Nach Osten und Norden erstreckten sich die weiten Ebenen von Mamuret-ul-Aziz. Hier und da ragten Hochplateaus aus den Hügeln des Vorgebirges hervor. Seit 2500 Jahren schon hatten andere Schäfer vor dem alten Vartabed hier von diesem Berg aus im Frühling beobachtet, wie die Ebenen und Hochplateaus des Mamuret-ul-Aziz grün wurden, aber nur wenige hatten wohl je erlebt, dass die Kräuter und Sträucher so zeitig wie in diesem Jahr zu sprießen begannen. Darin hätte der alte Vartabed das Anzeichen einer vielversprechenden Saison sehen und die Nachricht, wie es so seine Art war, freudig seinen Schafen vermitteln können. Aber er war beunruhigt. Eine seltsame Vorahnung hatte ihn in der Nacht befallen, die er selbst nach Tagesanbruch nicht mehr von sich abschütteln konnte. Jetzt hielt er Ausschau nicht nach den Landstrichen mit dem langersehnten Grün, das bald das Blöken seiner Schafe verstummen lassen würde, sondern weit hinaus nach Norden, wo sich das blaue Band des Euphrat im Dunst der Morgendämmerung verlor. Was seine alten Augen dort suchten, wusste er selbst nicht; aber von dorther schien Gefahr zu drohen.

Plötzlich drang aus dem Tal der schleppende, eintönige Ruf zum Dritten Gebet nach oben zum alten Vartabed, die Aufforderung an gläubige Muslime, das Licht des neuen Tages zu begrüßen. Das riss den Schäfer aus seinen Grübeleien.

»Ja, das war es, das Zeichen! Die Gefahr könnte aus dem Norden kommen, und was immer es sei, es würde sich zuerst in der Stadt manifestieren.«

Der Schäfer schaute ins Tal hinunter, auf die Dächer und die sich dazwischen windenden engen Straßen. Ein Minarett schimmerte auf, als der Muezzin gerade zum zweiten Mal seinen Ruf anstimmte. Vartabed ließ seinen Blick über die Stadt streifen bis hin zu den von den ersten Sonnenstrahlen umspielten Trümmern aus rotbraunem und grauem Gestein, den Ruinen der Burg, die Tschemsch2, ein armenischer König, in alten Zeiten erbauen ließ. Eine herzzerreißende Traurigkeit überkam ihn: Das Minarett stand unversehrt da, die Königsburg aber war zerfallen. Es gab zwei Arten von Gebeten in der Stadt, deshalb würde es Ärger geben.

Der alte Mann rammte den Schäferstab aufrecht in den Boden – ein Zeichen für seine Schafe, dass er dorthin zurückkehren werde – und folgte dann einem Pfad abwärts zu den niedrigeren Hängen, wo die Häuser der Stadt begannen. Mit festen, gleichmäßigen Schritten, ungewöhnlich angesichts seines hohen Alters, ging er zielstrebig durch die Stadt bis zu den Straßen mit den ansehnlichen Villen der Wohlhabenden. Dort bog er kurz ab und ging an einem öffentlichen Park entlang zur Villa des Bankiers Mardigian. In diesem Haus war der Schäfer jederzeit willkommen, hatte er doch schon für drei ihrer Familienoberhäupter die Herden gehütet.

Eine Hausangestellte öffnete das Eingangstor der Mauer an der Straße und ließ ihn in den inneren Garten eintreten. Als sie das Tor hinter ihm schloss, fragte er: »Ist der Hausherr noch zu Hause oder ist er schon so früh geschäftlich unterwegs?«

»Du solltest dich schämen, so etwas zu fragen!«, antwortete die Frau, unverblümt wie sie war. »Hast du vergessen, was heute für ein Tag ist? Wie kommst du auf die Idee, dass der Herr heute seinen Bankgeschäften nachgehen könnte?«

Der alte Mann schaute sie erstaunt an. Sie sah nun, dass er es wirklich vergessen hatte, und s