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Geht’s dir ein bisschen besser?«, fragt Sinje mitfühlend, als ich ihr den Schlüssel für die Eingangstür zum Kirchturm zurückgebe. Ich war auf der Plattform, von der man einen tollen Ausblick auf unseren kleinen Marktplatz hat, um meine Gedanken zu sortieren und einen anderen Blick auf die Dinge zu gewinnen, die vergangene Nacht passiert sind. Doch die Zeit war viel zu kurz, ich fühle mich immer noch, als hätte ein Panzer meine Seele überrollt.
Der Verrat durch zwei Menschen, die mir viel bedeuten, wiegt schwer wie Blei. Henrikje hat mir verschwiegen, dass sie Kontakt zu meiner verschollen geglaubten Mutter hat, und Jonas scheint ein falsches Spiel mit mir zu spielen, weil Bürgermeister Falk van Hove ihn offenbar dafür engagierte, uns Mitarbeiter der Touristeninformation auszuspionieren.
»Leider nein, aber ich sehe immerhin ein wenig klarer in Bezug darauf, was ich will«, erwidere ich mit einem Trauerkloß im Hals, der mir das Sprechen erschwert. »Doch ich weiß trotzdem noch nicht, wen ich zuerst zur Rede stellen soll: Henrikje oder Jonas, beide haben mich gleichermaßen verletzt.«
Sinje seufzt und wiegt ihren Kopf nachdenklich hin und her, dabei fallen ihr die blonden, seidigen Haare tief ins Gesicht. Wir haben bis in die frühen Morgenstunden bei ihr im Pastorat darüber gesprochen, was gestern Nacht passiert ist, und ich bin unendlich froh, sie in dieser Situation an meiner Seite zu haben. Eine bessere Freundin als sie kann man sich nicht wünschen.
Sinje öffnet gerade den Mund, um zu antworten, als ein melodischesPling den Eingang einer Nachricht ankündigt. Alarmiert zücke ich das Handy, denn trotz der Wut auf meine Großmutter bin ich natürlich besorgt wegen ihres plötzlichen Verschwindens, das so gar nicht zu ihr passt. Sie weiß genau, wie sehr ich unter dem mysteriösen Abtauchen meiner Mutter Florence leide und dass dieses Kindheitstrauma eine Verlustangst in mir ausgelöst hat, die ich wohl nie ganz überwinden werde, egal, wie alt ich bin.
Dass ich gestern Nacht durch Zufall eine Postkarte von Florence aus Paris gefunden habe, macht die Sache nicht besser, denn meine Großmutter ließ mich in dem Glauben, sie hätte niemals ein einziges Lebenszeichen von ihrer verschollenen Tochter erhalten.
Die Textnachricht ist von Henrikje und zieht mir beinahe den Boden unter den Füßen weg. Die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen, als ich sie laut vorlese. »Helmut ist tot. Herzinfarkt«, stammle ich, mir ist flau im Magen, und mein Kopf fühlt sich an, als bestünde er aus Watte.
»Helmut, tot?!« Sinje reißt ungläubig die Augen auf. »Du meinst Ankas Mann Helmut?«
»Ja. Henrikje bittet mich, dir Bescheid zu geben, damit du schnellstmöglich bei Anka vorbeischaust. Und ich soll bis auf Weiteres allein im Lädchen arbeiten. Wie gut, dass ich heute keinen Dienst in der Touristeninformation habe. Ich … ich kann das gar nicht fassen …«
»Oh, mein Gott«, murmelt Sinje betroffen. »Was ist denn auf einmal los? Erst diese fürchterlichen Geschichten mit Jonas und Henrikje, und nun stirbt auch noch Helmut, einer der nettesten Männer Lüttebys. Er war doch topfit, sportlich und hat sich gesund ernährt. Puh! Ich kann es gar nicht fassen. Kommst du denn …?«
»… allein klar?«, beende ich Sinjes zögerliche Frage, weil ich ihren Zwiespalt geradezu körperlich spüren kann. »Natürlich tue ich das. Kümmere du dich um Anka, sie braucht dich und deinen seelischen Beistand jetzt viel dringender als ich. Aber vielleicht können wir ja den heutigen Abend zusammen verbringen.« Mir graut bei dem Gedanken an die kommenden Tage, in denen so vieles geklärt werden muss, das zu heftigen Auseinandersetzungen führen wird. Vom schmerzhaften Liebeskummer und meiner unbändigen Wut auf Jonas mal ganz zu schweigen. Damit muss ich zwar allein fertigwerden, doch mit Sinjes Beistand wird es bestimmt ein wenig leichter.
»Aber natürlich«, sagt sie. »Magst du gegen acht vorbeikommen? Wenn du Lust hast, kannst du dich auch gern für länger im Pastorat einquartieren, dann hätten wir endlich mal wieder so richtig Zeit füreinander und könnten es uns gemütlich machen. Gunnar ist übrigens gerade für eine Woche auf Motorradtour mit seinem Kumpel.«
Da ich Henrikje sowieso gerade nicht mit dem Fund der Karte konfrontieren kann, erscheint mir Sinjes Vorschlag äußerst verlockend. Ich hätte ohnehin große Lust, mich entweder ebenso in Luft aufzulösen wie Florence damals oder meine Siebensachen zu packen und für ein paar Wochen zu verreisen, egal wie sehr ich Lütteby vermissen würde. Doch angesichts des unfassbaren Leids, das Anka widerfahren ist, schäme ich mich wegen meiner ichbezogenen Gedanken und Wünsche.
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