EINS
1995 im Elternhaus in Läufelfingen
Als Jonathan fünfzehn war, traf er eine Entscheidung, die sein Leben verändern sollte. Er sass im oberen Stock seines Elternhauses im Andachtsraum und liess ein letztes Mal die sonntägliche Routine auf sich wirken. Den schwefligen Geruch der Streichhölzer, mit denen der Vater die Kerzen beim Altar anzündete. Das Rascheln des Papiers, auf das dieser seine Predigt geschrieben hatte. Das Klingen der Gitarrensaiten, die sein Bruder für die Begleitung des Gottesdienstes stimmte. Und das Schaben der Stuhlbeine auf dem Teppich, als sich der Raum allmählich mit Menschen füllte. An die dreissig Angehörige von Vaters Kirche waren gekommen. Hier ein Hallo, da eine Umarmung, dort ein Nicken.
Ein Sonntag wie jeder andere im Hause Fischer. Nicht für Jonathan. An diesem Morgen wollte er sein Schweigen brechen. Er konnte nicht länger mit einer Lüge leben. Als der Gottesdienst begonnen hatte und die Töne des ersten Liedes verstummt waren, trat der Junge an den Altar. Vor seinen Vater, die Mutter, seine Geschwister und die Glaubensgemeinde. Er blickte in die Gesichter der Menschen, die er seit Jahren kannte. Angstschweiss trat aus seinen Poren. Hitze durchströmte seine Wangen. Er spürte das Pochen seines Herzens in seinem Kopf.
»Ich muss euch etwas sagen«, begann er. »Was wir machen, passt nicht in mein Leben. Ich gehöre hier nicht dazu.« Schweigen. Jonathan traten Tränen in die Augen. Seine Stimme brach. Doch er sprach weiter: »Ich glaube nicht, was ihr glaubt. Heute sehen wir uns zum letzten Mal in diesem Rahmen. Ich werde nicht mehr kommen.«
Weinend rannte Jonathan in sein Zimmer, nicht ahnend, was sein Entschluss für sein künftiges Leben bedeuten würde.
Geburt und frühe Kindheit
Das Fruchtwasser brach am 3. Dezember 1979, als Helen Fischer einen Topf aufs Regal heben wollte. Ein klares Zeichen – ihr viertes Kind wollte raus. Das Haus war still. Alle schliefen. Helen zog ihren Mantel an und trat in Hausschuhen hinaus in die verschneite Winternacht. Sie stapfte über die Strasse und klingelte bei der Hebamme, die ein paar Häuser weiter wohnte. Dort brachte sie ihr Baby zur Welt. Die Geburt dauerte nicht lange. Ein paar heftige Wehen, dann erschien das Kind. Die Hebamme hob es in die Höhe. Es schrie laut. Erst als es endlich bei seiner Mutter im Arm lag, beruhigte es sich.
Ein Junge, 3360 Gramm. Die Eltern nannten ihn Jonathan. Ein hebräischer Name. Er bedeutet »Geschenk Gottes«. Genau das war dieses Kind. Ein von Gott gewolltes Bündel Leben. Der himmlische Vater hatte ihnen diesen Menschen anvertraut, obwohl Helen und Erich Fischer zu Beginn ihrer Beziehung keine gemeinsamen Kinder haben wollten.
Die Geschichte von Helen und Erich Fischer begann in den frühen Siebzigerjahren. Damals war Helen bereits verheiratet. Mit Paul, einem Künstler. Sie hatten einen Sohn und eine Tochter. Die Ehe kriselte, weil Paul nicht von anderen Frauen lassen konnte. Für beide war klar, dass die Beziehung sich dem Ende zuneigte. Doch Paul wollte seine Frau mit den zwei Kindern nicht ihrem Schicksal überlassen. Er hatte einen Plan: Helen brauchte einen neuen Partner. Deshalb brachte er eines Abends Erich Fischer, einen Keramikkünstler, zum Abendessen mit nach Hause. Er hatte ihn im Militärdienst kennen gelernt. Helen erinnert sich, wie Erich in ihr Haus kam, noch immer im »Militärgwändli«, in der Hand einen Korb mit seinen Habseligkeiten – eine Zahnbürste, frische Wäsche, eine Flöte und ein Buch. Als ihr Mann Paul schon im Bett lag, philosophierte sie mit dem Gast bis spät in die Nacht. Sie bewunderte ihn. Er war frei, tat, was ihm gefiel. Ein Künstler. Pauls Plan ging auf.
Helen verliebte sich und bezog samt ihren beiden Kindern mit Erich eine Wohnung. Er verwöhnte sie und betete sie an – in seinen guten Zeiten. Doch Erich hatte auch schlechte Zeiten. Tage, an denen ihn die Erinnerungen in ein Loch zogen. Erinnerungen an den Vater, der Bierbrauer gewesen war. Daran, wie der Vater die Mutter nachts im Nebenzimmer angeschrien und traktiert hatte. Wie er auch mit ihm verfahren war. Wie er ihn als Kind hatte schuften lassen, wie er den hochsensiblen Knaben geschlagen und mehr als einmal im Brunnen um ein Haar ertränkt hatte. Helen war überzeugt, dass Erichs Vater seinen Sohn in der Kindheit gebrochen hatte.
Sie dagegen war in einer glücklichen Familie gross geworden, in einem Haus voller Glauben und Liebe. Der Vater hatte die Tochter studieren lassen, damit sie Lehrerin werden konnte. Sie empfand es als Privileg, für das sie stets dankbar gewesen war. Eines Tages war sie auf dem Heimweg von der Schule im Gebiet der Basler Heuwaage ein paar Gestalten begegnet – verwahrlosten Menschen, wie es sie später auf dem Zürcher Platzspitz zu Hunderten gab. Helen hatte sie angesehen und ein Gebet zum Himmel geschickt: »Lieber Gott, ich darf so schön aufwachsen, meine Eltern lieben mich, und ich darf machen, was ich gern tue. Wenn ich nur einen von diesen Menschen retten könnte, hätte sich mein Leben gelohnt.«
Dieses Erlebnis vergass sie. Erst als sie mit Erich zusammen war und ihm schwer ums Herz wurde, kam es ihr wieder in den