: Christine Brand
: Wahre Verbrechen Die dramatischsten Fälle einer Gerichtsreporterin - True Crime
: Blanvalet
: 9783641281878
: 1
: CHF 8.80
:
: Gesellschaft
: German
: 352
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Gerichtsreporte in und Bestsellerautorin Christine Brand erzählt wahre Verbrechen, begangen von Menschen die unser aller Nachbarn sein könnten.
Ein unauffälliges Ehepaar wird zum tödlichen Duo - mit einem absurden Motiv. Ein Mann gesteht den Mord an seiner Frau und wird doch freigesprochen. Ein kleines Dorf wird von einer unvorstellbaren Tat erschüttert. Christine Brand, Autorin des Bestsellers »Blind« und weiterer Kriminalromane um ein Schweizer Ermittlerduo, war als Gerichtsreporterin bei den Prozessen zu diesen und anderen Fällen hautnah dabei und hat Einblicke in die Geschichten von Tätern, Opfern und Publikum wie kaum jemand sonst. Sie erzählt von den Verbrechen, spannender und oft unglaublicher als jeder Krimi, und davon, wie es ist, im Gerichtssaal zu sitzen und in die tiefsten Abgründe der Menschen zu blicken.

Christine Brand, geboren und aufgewachsen im Emmental in der Schweiz, arbeitete als Redakteurin bei der »Neuen Zürcher Zeitung«, als Reporterin beim Schweizer Fernsehen und als Gerichtsreporterin. Im Gerichtssaal und durch Recherchen und Reportagen über die Polizeiarbeit erhielt sie Einblick in die Welt der Justiz und der Kriminologie. Neben der erfolgreichen Milla-Nova-Reihe erscheinen bei Blanvalet auch ihre True-Crime-Titel »Wahre Verbrechen« über Kriminalfälle, die sie als Gerichtsreporterin begleitete. Christine Brand lebt in Zürich und auf Sansibar.

Der Jahrhundertmörder


»Ich habe immer bei allem gedacht, ich kann das mit mir alleine ausmachen. Aber da gab es diesen einen Vorfall – über den habe ich mit meinem Vater gesprochen. Es passierte ganz am Anfang, nach meiner Einarbeitungszeit, während eines Nachtdienstes. Ich weiß noch genau, welche Kollegen dabei waren. Es geschah auf der Intensivstation 211.

Ein Patient hat massiv zu bluten begonnen. Er war bei Bewusstsein und sagte, es gehe ihm nicht gut. Die Flaschen füllten sich rasch mit Blut, alles ging ganz schnell, alle möglichen Ärzte und Pflegekräfte wurden alarmiert, alles was da war, war innerhalb von Minuten im Zimmer. Er wurde beatmet und ins Koma versetzt, und sein Brustkorb wurde geöffnet. Ich stand hinter dem Arzt, zog mir die Einweghandschuhe an und musste mit der Hand das Herz ergreifen, um es mechanisch am Pumpen zu halten.

Das ist alles auch erst mal gut gegangen.

Aber dann, nach der Arbeit, saß ich im Auto und war nicht in der Lage loszufahren. Das war einfach zu schnell und zu viel für mich, ich konnte das nicht verarbeiten.

Darüber habe ich also mit meinem Vater gesprochen.

Er fragte mich: ›Bist du sicher, dass du da richtig bist?‹ Und ich antwortete mit Ja, ich wollte vor meinem Vater nicht eingestehen müssen: Papa, ich schaffe das nicht. Ich wollte es mir selber nicht eingestehen. Ich habe meine Gefühlslage vor mir selbst verleugnet.

Die ehrliche Antwort wäre gewesen: Eigentlich ist das nichts für mich. Stattdessen sagte ich: ›Ich schaffe das schon.‹«

Er hat es nicht geschafft.

Hätte Niels H. damals zugeben können, dass er der falsche Mann für diesen Job ist, wäre er nicht zum größten Serienmörder der deutschen Nachkriegszeit geworden.

*

Die Weser-Ems-Halle in Oldenburg ist siebenhundert Quadratmeter groß. Dreihundertfünfzig Stühle stehen da in Reih und Glied, rot gepolstert, wie in einem Konzertsaal. Doch die Stimmung wiegt schwer und legt sich wie ein Schatten über die Menschen, die sich an diesem nasskalten Morgen hier einfinden. Auch ich kann mich ihr nicht entziehen. Zu gewaltig ist die Last dieser Geschichte, zu erdrückend. Immer wieder denke ich an die Zahl der Opfer, die schwer zu fassen ist.

Ein Absperrband trennt verschiedene Sitzbereiche voneinander ab: Journalisten, Zuschauer, Angehörige.

Viele Angehörige.

Es kommt mir vor, als ob ich ihren Schmerz spüren könnte, als ob er sich ausbreitete im Saal wie eine leise, traurige Melodie. Tatsächlich sitze ich mitten in einer Trauergemeinde, heute, hier, in der riesigen Halle, in der sonst getanzt, gefeiert, konferiert wird, in der Stars wie Vanessa Mae auftreten. Die Menschen sind nicht zusammengekommen, um Abschied zu nehmen, das haben sie vor langer Zeit getan – sondern um Antworten auf die Frage zu erhalten, warum ihre Liebsten überhaupt gehen mussten.

Es ist der 30. Oktober 2018, die Weser-Ems-Halle ist für die nächsten Wochen zu einem Gerichtssaal umfunktioniert worden. Hier findet ab heute ein Verfahren statt, das alle Dimensionen sprengt: der größte Mordprozess in der Geschichte der Bundesrepublik.

Schon ganz am Anfang zeigt sich, dass alles an diesem Prozess außerordentlich ist. Der vorsitzende Richter Sebastian Bührmann beginnt mit einer Schweigeminute. Ich erhebe mich, gemeinsam mit allen anderen i