1. KAPITEL, 25. DEZEMBER
Zurück zu den Wurzeln
Wenn die Nächte so kalt sind, dass die Tränen gefrieren
Es war jetzt bald sechs Jahre her, seit sie das letzte Mal im Dorf war. Zur Beerdigung ihrer Mutter. Und sie war damals nur gekommen, um es den Großeltern nicht noch schwerer zu machen. Es war von vornherein klar gewesen, dass sie nicht länger bleiben würde als einen halben Tag und eine Nacht, schon am nächsten Morgen war sie wieder gefahren.
Die unsägliche Trauer der beiden Alten war fast körperlich spürbar, daran erinnerte sie sich noch, wie ein Geruch, der immer stärker wurde, je näher man ihnen kam. Und je länger sie zusammen an dem schweren Zirbenholztisch in der Essstube saßen, die Großmutter mit starrem Blick und den Händen untätig im Schoß, der Großvater mit dem halbvollen Glas Haselnussschnaps vor sich, von dem er nach dem ersten Schluck nichts mehr trank.
Sie hatten dort gesessen, bis die Kerze so weit niedergebrannt war, dass sich ein Strom von heißem Wachs über die Tischplatte ergoss. Bis der Großvater aufstand und wortlos die Hand nach seiner Frau ausstreckte, mit krummen Schultern und den Blick auf den Fußboden gerichtet.
»Schlaf gut, mein Kind«, hatte die Großmutter ihr zugeflüstert. »Fürchte dich nicht!«
Ein dumpfer Schmerz, der das Haus nie wieder verlassen würde. Doch der Schmerz war nicht neu. Für keinen von ihnen, für Lisa am allerwenigsten.
Fürchte dich nicht!
Seither hatte sich Lisa mehr als nur einmal gefragt, ob die Worte der alten Frau nicht ganz anders gemeint gewesen waren, als sie klangen. Nicht als Trost, sondern als Warnung. Vielleicht hätte ihre Mutter diese Frage beantworten können. Aber die hatte es vorgezogen, einen ganz anderen Weg zu gehen. Auch wenn ihr geliebter Herrgott damit sicherlich nicht einverstanden war. Aber vielleicht hatte sie ihn diesmal ausnahmsweise nicht um seinen Rat gebeten.
Als Lisa das Schild an der Abzweigung von der Landesstraße passierte, sc