Mädchen
in Bernstein
Alice erwachte. Es war, als hätte sie geträumt, aber der Traum hatte sich so real angefühlt wie eine Erinnerung. Sie wusste, dass es nichts dergleichen gewesen war. Ihr war, als hätte sie mit einem kleinen Mädchen gesprochen, einem Mädchen, das beinahe genauso ausgesehen hatte wie sie in diesem Alter. Dieses Mädchen war in schrecklicher Gefahr gewesen, und Alice hatte ihr irgendwie geholfen.
Die Erinnerung an den Traum verblasste bereits wie zerrissene Spinnweben, die in dem schwachen Sonnenlicht, das durch Bäume drang, zu Boden sanken. Hatcher war fort, auch wenn die Decken noch warm waren, wo er geschlafen hatte. Vielleicht hatte er sie geweckt, als er aufgestanden war, auch wenn er das sicher vollkommen lautlos getan hatte. Selbst im Schlaf wusste sie immer ganz genau, ob er in der Nähe war oder nicht.
Alice hätte ihn jetzt gern bei sich gehabt, um ihm von dem kleinen Mädchen zu erzählen, das ihr so ähnlich sah. Nicht dass sie sich Rat oder irgendeine Weisheit von ihm zu dem Thema erhoffte. Hatcher war selbst zu seinen besten Zeiten nicht besonders redselig. Aber es tröstete sie, sein ernstes Gesicht auf der anderen Seite des Feuers zu sehen, mit dieser Intensität im Blick, die ihr sagte, dass er aufmerksam zuhörte und nicht nur auf eine Gelegenheit wartete, selbst zu sprechen.
Nach diesem Muster liefen doch die meisten Gespräche ab: Die Leute hörten nicht wirklich zu, sondern warteten nur auf eine Gelegenheit, selbst das Wort zu ergreifen – so zumindest Alice’ Erfahrung. Nicht dass sie so viel Erfahrung in Gesprächen mit Menschen hatte, nicht wirklich. Den größten Teil ihres erwachsenen Lebens hatte sie in einem Krankenhaus verbracht, mit einer Mauer zwischen sich und ihrem einzigen Gesprächspartner. Aber seit Hatcher und sie die Alte Stadt verlassen hatten, hatte sie beobachtet, wie die Menschen in all den puppenstubenkleinen Dörfchen miteinander umgingen, und einige interessante Eindrücke zusammengetragen.
Der Morgen war kalt, kalt genug, dass sich ihre Gesichtshaut rau anfühlte. Im letzten Dorf, durch das sie gekommen waren, hatte es einen Wintermarkt gegeben, und Alice hatte eine dicke Strickmütze aus grauer Wolle und einen dazu passenden Pullover gekauft. Hatcher hatte sich auf einen Pullover eingelassen, von einer Mütze aber nichts wissen wollen. Er behauptete, sie würde sein Gehör beeinträchtigen, weil sie über die Ohren ging, und er bräuchte sein Gehör.
Die Frau, die die Strickwaren verkaufte, hatte ihn misstrauisch beäugt, sodass Alice schnell bezahlt und Hatcher weitergeschoben hatte, bevor er noch anfing, davon zu reden, dass er sich in einen Wolf verwandelte. Nicht dass er eine Strickmütze trug, wenn er ein Wolf war, aber sein Gehör war wesentlich schärfer als früher, auch wenn er als Mensch herumlief, und er mochte es nicht, wenn seine Sinne durch irgendetwas beeinträchtigt wurden.
Dass er sich in einen Wolf verwandelte, war kein Thema, das Alice gegenüber gewöhnlichen Menschen gern ansprach. Es machte sie nervös, weil sie Hatcher für verrückt hielten (was er auch war, aber auch das war kein Thema, mit dem Alice gern hausieren ging), oder sie glaubten an Werwölfe, und dieser Glaube jagte ihnen eine Heidenangst ein.
Falls es Letzteres war, kamen schneller, als ihnen lieb sein konnte, Schießgewehre und kalte Blicke zum Vorschein, und dann wurden sie aus dem Dorf gejagt, und natürlich wollte Alice auch das nicht. Es war ziemlich schwierig, wenn sie fliehen mussten (es war erst einmal passiert, aber die Gerüchte hatten sie noch drei Dörfer weiter eingeholt, und in der Folge war es schwierig gewesen, Lebensmittel einzukaufen), und es war nie ganz unkompliziert, Hatcher davon abzuhalten, irgendjemanden einfach zu erschlagen, der Alice bedrohte.
Also war es wirklich besser, wenn Hatcher in Gesellschaft anderer Menschen so wenig wie möglich redete. Er kon