Kapitel 1
Heute ist der Tag der Prüfung.
Ich schiebe den kühlen Stoff meines Oberteilsüber die fünf langen, gezackten Narben auf meinem Oberarm und betrachte mich im Spiegel. Eine blaue Tunika mit langenÄrmeln, eine graue Hose, ein silbernes Armband mit einem einzigen Stern. Dieser Stern und die dunklen Ringe der Müdigkeit unter meinen Augen sind es, die mich als Studentin in der Eingangsphase der Universität kennzeichnen. Auch bei meinen neunzehn Kommilitonen sehe ichähnliche Anzeichen dafür, dass sie bis spät in die Nacht hinein für den heutigen Tag gelernt haben. Sechs Monate lang haben wir die gleichen Vorbereitungskurse besucht, und heute werden wir nun geprüft und den Studienfächern zugeordnet, die für den Rest unseres Lebens im Mittelpunkt unserer Arbeit stehen werden.
Meine Brust fühlt sich eng an. Früher habe ich mich immer auf Tests gefreut. Ich mochte die Gelegenheit zeigen zu können, was ich mir angeeignet hatte. Zu beweisen, dass ich hart gearbeitet hatte. Andere wissen zu lassen, dass ich klug bin. Nun bin ich mir nicht mehr sicher, was richtig ist oder wie die Konsequenzen für falsche Antworten aussehen werden. Während sich die anderen Kursteilnehmer darüber Gedanken machen, welche Auswirkungen die Prüfungen auf die vor ihnen liegenden Jahre haben werden, mache ich mir Sorgen, dass ich den heutigen Tag nichtüberlebe.
Normalerweise schlinge ich meine Haare zu einem dicken, dunklen Knoten zusammen, damit sie mir nicht ins Gesicht fallen. Heute jedoch entscheide ich mich dafür, sie offen zu tragen. Vielleicht lassen sich hinter den dunklen Locken die Spuren der letzten schlaflosen Monate verbergen. Wenn nicht, hilft es vielleicht, mir kalte Kompressen auf die Augen zu legen, wie meine Mutter es mir beigebracht hat.
Beim Gedanken an meine Mutter durchströmt mich eine Woge von Sehnsucht. Der Kontakt zwischen Universitätsstudenten und ihren Familien ist zwar nicht ausdrücklich verboten, wird aber auch nicht gefördert. Die meisten Studenten, die ich kenne, haben bisher kein einziges Wort von ihren Lieben zu Hause gehört. Ich dagegen hatte Glück. Einer der Offiziellen aus Tosu-Stadt war bereit gewesen, kurze Nachrichten zwischen mir, meinen Eltern und meinen vierälteren Brüdern zuüberbringen. Es geht ihnen gut. Mein Vater und meinältester Bruder, Zeen, arbeiten an einem Düngemittel, um das Wachstum von Pflanzen zu beschleunigen. Mein zweitältester Bruder, Hamin, hat sich verlobt. Er und seine zukünftige Frau werden im nächsten Frühling heiraten. Seine Entscheidung hat unsere Mutter dazu bewegt, auch für Zeen und meine Zwillingsbrüder, Hart und Win, nach Ehefrauen Ausschau zu halten. Bislang waren all ihre Bemühungen jedoch vergebens.
Außer meiner Familie ist es noch jemandem gelungen, mir Briefe zukommen zu lassen. Meine beste Freundin Daileen hat mir versichert, dass sie eifrig lerne und im Augenblick Klassenbeste sei. Ihre Lehrerin habe angedeutet, sie könne dieses Jahr vielleicht für die Auslese ausgewählt werden. Daileen wünscht sich sehr, zu mir nach Tosu-Stadt zu kommen. Ich hingegen hoffe, dass sie bei den Prüfungen versagt. Ich wünsche mir, dass sie an einem Ort bleibt, an dem die Antworten auf Fragen einen Sinn ergeben und an dem ich sie in Sicherheit weiß.
Ein Klopfen an der Tür lässt mich zusammenzucken.»Hey, Cia, bist du so weit? Wir wollen doch nicht zu spät kommen.« Stacia hat recht. Wer nicht pünktlich da ist, wird zur Prüfung gar nicht erst zugelassen. Was das für die Zukunft bedeutet, wissen wir zwar nicht, aber wir legen auch beide keinen großen Wert darauf, es herauszufinden.
»Noch eine Minute«, rufe ich, während ich mich neben das Fußende meines Bettes knie und die Hand zwischen den Bettrahmen und die Matratze schiebe. Suchend tasten meine Finger herum, bis sie auf eine ausgebeulte Stelle stoßen. Ich atme erleichtert auf. Der Transit-Kommunikator meines Bruders Zeen ist noch immer dort versteckt und mit ihm die Geheimnisse, die er in sich birgt.
Vor einigen Monaten habe ich das Symbol entdeckt, das ich in das kleine Gerät geritzt hatte, damit ich die Rekorderfunktion und die geheimen Aufnahmen wiederfinde. Ich hörte mir den vertraulichen Bericht an, konnte mich aber nicht daran erinnern, diese Worte gesprochen zu haben. Schließlich schnitt ich meine Matratze auf und versteckte den Kommunikator darin. Woche für Woche, Monat für Monat versuchte ich, mir einzureden, dass das, was ich gehört hatte, nicht wahr wäre. Sah ich denn nicht jeden Tag, dass meine Mitstudenten anständige Menschen sind? Dass die Professoren und die Angestellten in der Verwaltung, die uns auf die Zukunft vorbereiten, wollen, dass wir erfolgreich sind? Einige von ihnen geben sich reserviert, andere treten arrogant auf. Keiner der Studenten oder der Lehrkräfte ist perfekt, aber wer ist das schon? Trotz ihrer Schwächen will ich einfach nicht glauben, dass auch nur einer von ihnen der geflüsterten, manchmal kaum zu verstehenden Dinge fähig ist, die auf dem Kommunikator aufgezeichnet sind.