: Rachel Cusk
: Coventry Essays
: Suhrkamp
: 9783518772072
: 1
: CHF 22.00
:
: Essays, Feuilleton, Literaturkritik, Interviews
: German
: 160
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Was passiert mit uns, wenn unsere eigenen Eltern plötzlich aufhören, mit uns zu reden? Warum scheint sich Grobschlächtigkeit weltweit öffentlich durchzusetzen? Kann man ein Haus bauen, ohne den Verstand zu verlieren? Warum regredieren wir beim Autofahren so spektakulär? (Sollten unsere SUVs die Airbags nicht besseraußen haben?) Und wie kann es gelingen, gleichzeitig Mutter, Tochter, Ehefrau, Staatsbürgerin, Künstlerin undbreadwinner für die ganze Familie zu sein? (Achtung, Spoiler: schwierig!)

Rac el Cusk ist eine unerbittlich humorvolle Selbsterforscherin und eine Poetin der gespaltenen Gefühle.Coventry versammelt eine Reihe ihrer glänzenden Essays, hochaufgelöste, tiefenscharfe Meisterstücke. Sie zu lesen bedeutet, sich den weitreichenden Ungewissheiten zu stellen, die wir alltags lieber nicht beachten.



<p>Rachel Cusk, 1967 in Kanada geboren, hat die international gefeierte<em>Outline< /em>-Trilogie, die Memoirs<em>Lebenswerk&l ;/em> und<em>Danach</em> sowie zahlreiche weitere Romane und Sachbücher geschrieben.<em>Der andere Ort</em>, ihr zuletzt erschienener Roman, stand auf der Longlist des Booker Prize. Sie ist Guggenheim-Stipendiatin und lebt in Paris.</p>

Autofahren als Metapher


Wo ich lebe, hat man auf der Straße immer jemanden vor sich, der besonders langsam fährt. Wir sind hier in einer ländlichen Gegend am Meer. Hohe Hecken zu beiden Seiten der schmalen, hohlwegartigen Straßen schützen die Felder vor den Küstenwinden. Die Straßen haben die Eigenart, abzuschweifen und nur selten auf direktem Weg irgendwo hinzuführen. Sie durchziehen die flachen Felder wie Adern. Was vor einem liegt, ist schwer erkennbar, und weil es kaum Erhöhungen gibt, kann man sich leicht verirren. Dennoch ist hier keine übertriebene Vorsicht geboten, kein Grund zur Beunruhigung, ganz im Gegenteil. Trotzdem fahren die Leute nicht schneller als fünfundzwanzig, dreißig oder fünfzig Kilometer pro Stunde. Und egal, wie viele Autos man überholt – hinter der Kurve wartet schon das nächste.

Die meisten dieser Fahrer sind alt, ihre Autos oft gepflegte Neuwagen. Zu gewissen Jahreszeiten kommen viele Touristen hinzu, die versuchen, ihre Wohnwagen und Reisemobile über die engen, gewundenen Wege zu manövrieren. Es gibt hier auch Bauernhöfe, und manchmal blockieren Traktoren die Fahrbahn oder schleudern mit ihren großen, durchdrehenden Rädern Schlammklumpen in die Höhe, die auf die Windschutzscheibe klatschen oder mit dumpfem Schlag auf der Motorhaube landen. Über kurze Strecken verläuft die Straße gerade und man kann weit genug sehen, um zu überholen. Die Leute in den großen, leistungsstarken Autos tun dies mit kühner Gelassenheit, gleichgültig gegen das Risiko. Andere zögern und verpassen ihre Chance. Aber egal, wie oft man überholt – schon nach wenigen Minuten hängt man wieder hinter jemandem fest.

Die Gegend ist ländlich geprägt, eine Provinz, deshalb könnte man annehmen, die Leute hätten es selten eilig. Beziehungsweise könnte man sagen, dass die relative Abgeschiedenheit uns dazu verleitet, andere Menschen und den öffentlichen Raum weniger bewusst wahrzunehmen. Die Küstenstraße ist zugleich eine Durchgangsstraße; für gewöhnlich muss man sie nehmen, egal, wohin man will. Sie führt durch mehrere Dörfer, deren Architektur aus schmalen Brücken und engen Gassen zwar reizvoll anzusehen, aber dennoch eine Verkehrsstörung ist. Ständig ergeben sich Probleme, und obwohl man den malerischen Orten nicht die Schuld geben kann, verwandeln sie sich, sobald eine größere Anzahl von Fahrzeugen sie durchqueren will, in eine Art Hindernisparcours. Die Häuschen und Cottages sind alt und haben ihre Maße nie verändert, während die durchfahrenden Autos größer geworden sind; manchmal schieben sie sich nur mit einem knappen halben Meter Abstand an den Fenstern vorbei. Wenn der Verkehr zum Erliegen kommt, wirken einige der kleinen Cottages im Vergleich zu den Autos zwergenhaft. Die Leute in den Häusern und die in den Autos können einander durch ihre jeweiligen Fenster betrachten.

Mehrmals am Tag staut sich der Verkehr auf der Dorfstraße in beide Richtungen, als wäre ein Unglück geschehen oder als gäbe es dort eine Sehenswürdigkeit. Dabei ist es nur das Schauspiel von Menschen, die an ungeeigneter Stelle ihren Willen durchsetzen wollen; die Fahrzeuge sind viel größer und sperriger als ihre Insassen. Oft stehen sich in der Mitte des Staus ein riesiges Wohnmobil und ein Lastwagen gegenüber und kommen auf der engen Fahrbahn nicht aneinander vorbei. Manchmal ist die Situation nur dadurch zu verändern, dass sich eine der Autoschlangen rückwärts aus dem Dorf herausschiebt und die andere passieren lässt. Falls aber niemand zugegen ist, der den Vorgang initiiert und überwacht, kann das Patt länger andauern. Doch für gewöhnlich übernimmt irgendwer die Führungsrolle. Wird das Verkehrschaos dann aufgelöst, zeigt sich oft, dass viele der Beteiligten nicht in der Lage sind, ihr Auto kontrolliert zu führen. Manche haben große Mühe, sich an die veränderten Umstände anzupassen, an die Notwendigkeit, als Gruppe zu handeln. Geht man zu Fuß an einem solchen Stau vorbei, wirkt die lange Reihe aus menschlichen, karosseriegerahmten, hinter Windschutzscheiben gefangenen Gesichtern so beeindruckend wie das Werk eines Porträtmalers.

Auf freier Strecke gelingt es den langsameren Fahrern oft nicht, ihre Absichten und Ziele klar zu kommunizieren. Auf geraden, leeren Abschnitten bremsen sie ohne erkennbaren Grund, oder sie verlieren stetig an Tempo und kommen zu einem unerklärlichen Stillstand, vermutlich ganz ohne zu merken, dass hinter ihnen noch jemand ist. Wenn sie beim Abbiegen blinken, dann allenfalls zeitverzögert; immerzu muss man aus ihrem Fahrverhalten herauslesen, was sie tun oder zu tun beabsichtigen. Beispielsweise ist eine Person, die an jeder Kreuzung oder Seitenstraße langsamer fährt, wahrscheinlich auf der Suche nach einer bestimmten Abbiegung, weiß aber nicht genau, wo sich diese befindet. Andere bremsen vor einem Pub oder einem Geschäft abrupt ab, weil sie offensichtlich erwägen, dort hineinzugehen. Dann verkehrt sich die eigentliche Autonomie und Unabhängigkeit des Autos, seine hermetische Abgeschlossenheit, ins Gegenteil, und die gesamte Verantwortung des Fahrens, seine visuelle und geistige Last, wird auf die Außenstehenden übertragen. Weil die Gegend einsam ist und viele Urlauber anzieht, fühlen die Leute sich vielleicht berechtigt, ihre Last ausgerechnet hier abzuwerfen. An diesem abgelegenen Ort wird zwischen dem privaten und dem öffentlichen Leben weniger deutlich unterschieden; der Vertrag der Straße und ihr Status als ein Raum, in dem Übereinkünfte gelten, scheinen außer Kraft gesetzt. Wieder andere bringt die vermeintliche Gesetzlosigkeit dazu, ihre Absichten mit zu viel Nachdruck kundzutun. Sie fahren sozusagen übereifrig, als wollten sie uns eine Lektion erteilen. Wenn sie nach rechts abbiegen, tun sie es mit viel Trara, frühzeitigem Blinken und verlängertem Bremsweg. Die Verkehrsregeln befolgen sie so demonstrativ gewissenhaft, dass ihr Verhalten ähnlich ablenkend wirkt wie das eines Schauspielers, der durch seine fortgesetzten Versuche, die Aufmerksamkeit auf sich und seine Rolle zu lenken, eine Massenszene zu sprengen droht. Für solche Leute ist die Straße anscheinend keine geteilte Wirklichkeit, sondern eine Art Fiktion, eine Gelegenheit, sich durch Verstellung sichtbar zu machen.

Oft wird vorgeschlagen, ältere Menschen sollten aufs Autofahren verzichten; in unserer Gegend werden solche Überlegungen durchaus angestellt. Vor einigen Jahren überfuhr eine vierundneunzigjährige Frau an einem Fußgängerüberweg ein zehnjähriges Mädchen. So etwas kommt bestimmt häufiger vor, aber dieser Fall ist mir im Gedächtnis geblieben. Einer der Gründe ist wohl im Narrativen zu suchen, in der Tatsache, dass das Leben der Frau durch ein einziges Ereignis an seinem Ende eine völlig veränderte Bedeutung annahm; so funktionieren Geschichten normalerweise nicht. Da sie bereits ein ungewöhnlich langes Leben hinter sich hatte, wunderte ich mich, ob die Frau sich wünschte, sie wäre gestorben, bevor sie das Mädchen totfuhr; wobei die Frage nach der Verantwortung in dieser Situation unklar erscheint. Man könnte das Auto als eine Waffe betrachten, die der Fahrerin rechtmäßig zur Verfügung gestellt wurde. In dem Fall hätte ein Mensch ihres Alters vielleicht entscheiden sollen, es nicht zu fahren. Oder man betrachtet jene Gesetze als mörderisch, die ihr die Entscheidung überlassen haben. Das Auto selbst könnte als Mörder gelten, hängt doch sein zerstörerisches Potential nur bedingt von der Person am Steuer ab.

Ältere Leute, die weiterhin Auto fahren, begründen dies am häufigsten mit dem Wunsch, sich ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Mit anderen Worten wären sie ohne Auto der Wirklichkeit ihres Lebens ausgeliefert und darin gefangen. Das trifft auch auf viele andere zu, deren Alltag, sei es durch äußere Umstände oder durch bewusste Entscheidungen, ohne Auto nicht zu bewältigen wäre. In unserer ländlichen Gegend fallen die meisten Menschen in diese Kategorie, denn nur wenige Geschäfte und Dienstleister sind fußläufig erreichbar. Wer hier kein Auto hat, wird zum Opfer der Umstände.

Vor einigen Jahren habe ich als Mutter von kleinen Kindern und an einem anderen Ort versucht, ohne Auto auszukommen, ein Vorsatz, der in einer ohnehin schon anstrengenden ...