: José Carlos Llop
: Der Bericht ?Guillermo Stein?
: Kupido Literaturverlag
: 9783966752138
: 1
: CHF 10.70
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 96
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»Meine Großmutter las mir die Postkarten vor und wenn sie fertig war, verfinsterte sich ihr Blick und ihre Augen wechselten die Farbe, genauso wie das Wasser eines Teichs die Farbe wechselt, wenn eine Wolke die Sonne verdeckt.« José Carlos Llop entwirft mit diesem Kurzroman ein diffuses Bild von Mallorca inmitten der franquistischen Diktatur. Die Ereignisse, die das Leben der jungen Protagonisten - Schüler eines Jesuitenkollegs - bestimmen, reichen bis in die Geschichte des Spanischen Bürgerkriegs zurück, als die Baleareninsel zum Stützpunkt des faschistischen Italiens wurde.

José Carlos Llop (geb. 1956, Palma de Mallorca) veröffentlicht seit seinem Debüt in den frühen 1990er Jahren Lyrik und Prosa. Seine Tagebücher sind maßgebliche Chroniken des heutigen Mallorcas und die Novellen und Romane wurden international prämiert. Der hier erstmals auf Deutsch vorliegende Der Bericht ? Guillermo Stein? erhielt 2008 den Prix Écureuil de Littérature Étrangère für den besten in Spanien publizierten Roman. Christiane Quandt ist Übersetzerin aus dem Spanischen und Portugiesischen. Sie übersetzte u. a. Lucero Alanís (Das Margeritenkloster), Esther Andradi (Drei Verräterinnen) und für den Kupido Literaturverlag Gonçalo M. Tavares ('In Amerika', sagte Jonathan).

I


Guillermo Stein tauchte mitten im Schuljahr auf. Und zwar mit dem Fahrrad. Von uns fuhr niemand mit dem Fahrrad zur Schule.

Er fuhr auf einem schwarzen Fahrrad, italienisches Fabrikat, hoher Rahmen. Guillermo Stein wäre kaum aufgefallen, wäre da nicht sein roter Regenmantel gewesen, den er wie ein Cape über den Schultern zusammengeknotet trug und von dem der Regen abperlte. Denn es war das Jahr des vielen Regens: Während des gesamten Schuljahres hörte es nicht auf zu schütten. Deshalb fuhr auch niemand mit dem Fahrrad zur Schule. Unter den Regenschirmen sahen wir Guillermo Stein: Wir sahen seinen vom Regenmantel rot umhüllten Rücken, und neben dem Licht am hinteren Schutzblech hing eine ovale, weiße Plakette, worauf die zwei schwarzen Buchstaben ›CD‹ zu lesen waren. Außerdem war da ein uns unbekanntes Wappen mit lateinischem Wahlspruch, Einhörnern und Lilien. Das Fahrrad, mit dem Guillermo Stein zur Schule kam, gehörte zu einem diplomatischen Korps, dessen Wappen in keinem Atlas zu finden war.

Doch war das nicht das einzig Seltsame der Ankunft des Schülers Guillermo Stein. Stein erschien in der Schule, und Pater Azcárate starb an einem Schlaganfall. Das Wort verbreitete sich zwischen den Klostermauern, in den Höfen und Klassenzimmern wie ein Lauffeuer. »Schlaganfall«, das galt unter uns als der gerechte Zorn Gottes und besaß die düstere Aura eines Seeungeheuers. Zu sehr klangen uns noch die Tiraden des Verstorbenen gegen Luther in den Ohren. Wir sahen ihn vor uns, wie er seiner haarspalterischen Obsession nachging, das Krankheitsbild des deutschen Kirchenspalters beschrieb, und wie ihm beinahe die Augen aus dem Schädel quollen. »Schlag-an-fall«, sprach er Silbe für Silbe betonend und wutentbrannt hinter dem Pult, während wir alle stumm beteten, die Stunde unseres Todes möge, wenn sie käme, nicht von der »Lutherischen Pest« begleitet sein.

Luther und Stein; der Schlaganfall und der rote Regenmantel; die Regenfälle und das Wappen. Wir hatten in den Atlanten nachgesehen, in denen alle Wappen Schmetterlingen glichen, mit Stecknadeln in Schaukästen gepinnt. Doch Steins Wappen war nicht darunter.

»Kein gutes Zeichen«, sagte Palou. »Gut möglich, dass wir das Jahr nicht bestehen. Dieser Guillermo Stein ist ein seltsamer Typ und ich mag keine seltsamen Typen. Sie bringen alles durcheinander.«

Palous Urteil war kein guter Start für Guillermo Stein. Palou warKonsul in Mathematik undKapitän unserer Klasse. Er hatte Kraft und Verstand und manövrierte uns souverän aus dem Schatten, wie es nur diejenigen draufhaben, die zugleich Kraft und Verstand besitzen. Für Palou war das Gleichgewicht der geheime Schlüssel des Lebens, ein wildes Gleichgewicht, dessen Maßeinheiten nur er kannte: Es durcheinanderzubringen war etwas Schreckliches für Palou, eine Strafe ohne vorheriges Verfahren.

An jenem Morgen, als Guillermo Stein ankam, war meineSektion mit der Totenwache von Pater Azcárates Leichnam an der Reihe. Als uns Pater Laval, Präfekt unseres Jahrgangs, die Tagesordnung mitteilte, fesselte uns eine diffuse und stumme Anspannung an unsere Bänke. Nur der Schüler Guillermo Stein war ganz in seine Angelegenheiten versunken. Als würde er gerade die Dschungel jener Nation erkunden, deren Wappen in keinem Atlas zu finden war. Niemand mochte die Totenwache in der Krypta der Klosterschule. Schon gar nicht für Pater Azcárate: Wir fürchteten, eine Spur seiner Besessenheit habe sich in das wächserne G