KAPITEL 1
Schön wie der Frühling …
Nellie summte die Melodie aus dem Hammerstein-Musical vor sich hin, während sie von der Straße, die in die Kleinstadt Onehunga bei Auckland führte, in die Zufahrt von Epona Station einbog. Sie war völlig unmusikalisch, doch ihrem Wolfshundmischling Jamie, der ausgestreckt die gesamte Rückbank ihres Geländewagens einnahm, war das gleichgültig. Hauptsache, sein Mensch war guter Dinge, und das traf an diesem Frühlingstag auf Nellie zu. Der Sonnenschein, der das kleine Stück Regenwald, durch das der Weg anfänglich führte, wie ein Märchenland wirken ließ, indem er die Flechten und Farne unwirklich beleuchtete, trug dazu bei.
Noch mehr erfreute sich Nellie jedoch an den Pferden auf den Weiden hinter dem Waldstück. Das Gras war gewachsen, und die ersten Stuten hatten abgefohlt. Mit den wärmenden Sonnenstrahlen hatten die von Gerstorfs, die Besitzer des Gestüts, sie herausgelassen, und nun fraßen edle Voll- und Warmblutstuten gierig das frische Gras, während ihre langbeinigen Kinder neugierig zu ihr herüberblickten. Nellie versuchte, die Stuten zu erkennen – sie kannte praktisch jedes Pferd auf Epona Station – und zu erraten, von welchem der prachtvollen Hengste die Fohlen stammten. Auf den Weg musste sie nicht sonderlich achten. Er war ihr mehr als vertraut, schließlich war sie ihn Hunderte von Malen gefahren, als sie nach ihrer Auswanderung nach Neuseeland zunächst hier gewohnt und eine Tierarztpraxis in New Lynn betrieben hatte. Inzwischen lebte sie in Ellerslie in einer Villa am Rande der Pferderennbahn, der ihr Mann Walter als Rennbahnleiter vorstand. Sie betreute die Rennpferde tierärztlich, nach Epona Station kam sie nur noch als Besucherin. April von Gerstorf hatte einige Jahre zuvor den jungen Tierarzt Alex Rawlings geheiratet – es gab also einen Veterinär vor Ort. Am Tag zuvor hatte Alex Nellie allerdings angerufen und um eine zweite Meinung zu zwei Pferden des Gestüts gebeten, und nun freute sie sich darauf, ihre Freunde wiederzusehen.
Ihr erster Blick beim Erreichen der Anlage fiel auf den gepflegten Dressurplatz, auf dem Julius von Gerstorf eben eine junge Reiterin und einen Reiter unterrichtete. Julius war nicht mehr jung, doch er hielt sich aufrecht und gerade wie der preußische Offizier, der er einst gewesen war. Er hatte das Militärreitinstitut Hannover besucht und gab das dort Gelernte nun an seine Enkel weiter. Auf einer eleganten schwarzen Stute erkannte Nellie Aprils Adoptivtochter Henny, eine zierliche Fast-Dreizehnjährige, die ihr langes, schwarzes Haar zum Reiten zu einem Zopf geflochten hatte. Wehende Locken waren auf dem Reitplatz nicht erwünscht. Nellie betrachtete Henny liebevoll – sie war ihre Enkelin, das leibliche Kind ihrer Tochter Grit, die sich selbst nie sonderlich für Pferde und das Reiten interessiert hatte.
Henny saß vorbildlich aufrecht und entspannt auf der jungen Stute Melora und führte die Zügel mit sanfter Hand – ein schöner Anblick. Der Reiter, er musste dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein, fesselte Nellies Blick ebenso. Sie hatte ihn lange nicht gesehen, doch auch wenn sie nicht gewusst hätte, dass es sich um Julius’ und Mia von Gerstorfs Enkelsohn Noah handelte, wäre ihr die Ähnlichkeit mit Julius aufgefallen. Auch Noah hatte dunkelblondes Haar, wobei sich in das von Julius schon sehr viel Weiß mischte, und ein klar geschnittenes Gesicht. Noah war groß und kräftig, und er ritt mit selbstverständlicher Leichtigkeit. Genauso hatte Julius von Gerstorf einst auf dem Pferd gesessen und ebenso Walter von Prednitz, Nellies Ehemann. Auch Walter war Offizier gewesen und hatte im Ersten Weltkrieg gedient.
Noah war das Kind von Julius’ und Mias Sohn Jonathan, der in Australien lebte und mit dem Noah wenig gemeinsam hatte. Als Junge war Jonathan ein verträumter Bücherwurm gewesen, der sich weit mehr an seinem Großvater, einem hochgebildeten Kommerzienrat und P