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»Komm schon, Heather. Du weißt, dass ich auf den Job angewiesen bin.« Clare fuhr sich mit der Hand durch ihre offenen hellbraunen Haare. Nichts hasste sie mehr, als zu betteln, doch wenn sie ihren Stolz diesmal nicht unterdrückte, würde sie sich einer viel schlimmeren Blamage hingeben müssen. Nämlich dem Klischee, dass das Mädchen vom Lande mit den großen Träumen in der Großstadt gescheitert war. Das wollte sie auf keinen Fall zulassen. Sie atmete noch einmal tief ein und ging in die Offensive.
»Ich leiste bessere Arbeit als die meisten hier, das kannst du wohl kaum bestreiten.« Clare sah ihrem Boss direkt in die Augen.
Heather McLaughlin war erst Anfang vierzig, doch in ihre braunen Haare mischten sich bereits ein Dutzend graue Strähnen. Sie trug ihr übliches Bürooutfit. Eine dunkle Anzughose, eine Seidenbluse und ausgefallene Pumps. Sie war bekannt für ihre Schuhe. Für Heather waren sie vermutlich das wichtigste Kleidungsstück. Heute trug sie eine gewagte Kreation aus Froschgrün, gespickt mit kleinen weißen Federn am Absatz.
Es war unüblich, dass die Mitarbeiter dem Geschäftsführer direkt unterstanden, doch beiIrish Readings, dem Verlag, für den Clare arbeitete, hielt man nichts von komplizierten Hierarchien. Kurze Wege und klare Kommunikation waren das Erfolgsgeheimnis, mit dem sich der Verlag auf dem stark umkämpften Markt behauptete. Trotzdem hatte auchIrish Readings mit der Wirtschaftskrise zu kämpfen. Infolgedessen mussten Einsparungen vorgenommen werden. Etwa durch Mitarbeiterentlassungen. Clare sollte nun zu einer solchen Einsparung werden. Doch sie weigerte sich, das zu akzeptieren, seitdem sie vor zwanzig Minuten in Heathers Büro gekommen war.
Heather war die Situation sichtlich unangenehm. »Hör zu, Clare. Ich habe keine andere Wahl. Ja, du bist eine großartige Autorin, das muss ich dir nicht sagen. Aber wir müssen sparen, und du bist am kürzesten hier. Irgendwo müssen wir anfangen.«
»Aber wieso bei mir? Ich gebe meine Aufträge immer pünktlich ab. Ich bleibe am längsten und habe mich noch nie vor einem Auftrag gedrückt. Geschweige denn mich beschwert.« Clare dachte an Flynn. Ihr Kollege war zwar ein liebenswerter Mensch, doch er schrieb ausschließlich die Texte, die ihm thematisch zusagten. Sobald er auch nur ein wenig Rechercheaufwand in ein fremdes Gebiet stecken musste, stellte er sich quer, und jemand anderes musste den Job übernehmen. In vielen Fällen war diese Person Clare.
»Es tut mir leid, Clare. Wirklich. Aber die Entscheidung ist gefallen. Ende der Geschichte.« Heathers Gesicht drückte so viel Mitleid aus, dass Clare es nicht länger ertrug. Sie hatte gekämpft, doch nun musste sie einsehen, dass sie verloren hatte. Bei dem Gedanken drehte sich ihr Magen um.
Ich habe es dir doch gesagt, ertönte die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf.Es wird Zeit, nach Hause zu kehren, mein Schatz. Clares Mum hatte noch nie verstanden, warum sich ihre einzige Tochter ausgerechnet zur Großstadt hingezogen fühlte. Als Clare damals verkündet hatte, in Dublin Buchwissenschaften studieren zu wollen, hatte ihre Mutter nur verwundert den Kopf geschüttelt. Ihre Kleine würde nie und nimmer das behütete Nest verlassen, davon war sie überzeugt gewesen. Als sie nach mehreren Monaten schließlich gemerkt hatte, dass es Clare ernst war, hatte sie mindestens einmal täglich betont, wie