2. Kapitel
Für die meisten Menschen im Land war das Jahr 1970 eine Zeit der Umwälzungen und gesellschaftlichen Veränderungen. Nur in einem Haus im Magnolia Drive blieb alles beim Alten.
Die zehnjährige Tully saß auf dem kalten Holzfußboden des Wohnzimmers und bastelte ein Blockhaus für ihre Puppen, die auf rosafarbenen Papiertaschentüchern schliefen. In ihrem Zimmer hätte sie ihre Schallplatte mit den Jackson Five hören können, doch im Wohnzimmer gab es nicht einmal ein Radio.
Tullys Großmutter mochte weder Musik noch das Fernsehen oder Brettspiele. Meistens saß sie, wie jetzt auch, in ihrem Schaukelstuhl am Kamin und stickte. Sie hatte bereits zahllose Stickbilder produziert, auf den meisten standen Bibelsprüche. Im Dezember spendete sie alle der Kirchengemeinde, die sie dann auf ihrem Weihnachtsbasar verkaufte.
Tullys Großvater war ebenfalls still, seit seinem Schlaganfall stand er nicht mehr aus dem Bett auf. Nur hin und wieder läutete er eine kleine Glocke, dann wurde Tullys Großmutter hektisch, was sonst nie vorkam – schon beim ersten Klingeln sprang sie auf und eilte mit einem Seufzer zu ihm.
Tully griff nach der Puppe mit dem blonden Haar, ließ sie mit der dunkelhaarigen Puppe tanzen und summte dazuDaydream Believer. Als an der Haustür geklopft wurde, hielt sie überrascht inne.
Mr und Mrs Beattle kamen sonntags, um Tully und ihre Großmutter zur Kirche abzuholen, doch es war nicht Sonntag, und an den anderen Tagen schaute nie jemand vorbei.
Tullys Großmutter schob ihre Stickarbeit in die rosafarbene Plastiktüte an ihrer Seite und schlurfte zur Haustür, um zu öffnen. Zuerst geschah gar nichts. Dann sagte sie: »Ach, du bist es.«
Ihre Stimme hatte sonderbar geklungen. Tully trat auf den Flur hinaus.
Im Rahmen der Haustür stand eine hochgewachsene Frau mit langem, wirrem Haar und einem Lächeln, das seltsam verrutscht wirkte. Trotzdem war sie eine der schönsten Frauen, die Tully jemals gesehen hatte, mit milchweißem Teint, einer schmalen Nase und hohen Wangenknochen. Doch die Lider über den braunen Augen wirkten schwer und schienen sich immer wieder schließen zu wollen.
»Begrüßt man so eine Tochter, die man ewig nicht gesehen hat?« Die Frau ging an Grandma vorbei und beugte sich zu Tully hinab. »Ist das meine kleine Tallulah Rose?«
Hatte die Frau »Tochter« gesagt? Grandmas Tochter? Aber das bedeutete doch, dass sie …
»Mommy?«, flüsterte Tully und wagte es kaum zu glauben. Wie oft hatte sie davon geträumt, ihre Mutter käme zurück, wie lange darauf gewartet.
»Hast du m