: Caroline Ring
: Botschafter des Lebens Was Bäume in Städten erzählen
: Berlin Verlag
: 9783827080202
: 1
: CHF 14.90
:
: Natur und Gesellschaft: Allgemeines, Nachschlagewerke
: German
: 220
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine botanische Entdeckungsreise durch Deutschlands Städte Wer faszinierende Bäume und ihre Geschichten kennenlernen will, muss dafür nicht tief im Wald verschwinden. In der Stadt genügt oft ein Schritt vor die eigene Haustür. Hier begegnet man mächtigen Riesen, begehrten Exoten und uralten Zeitzeugen. Sie erzählen von Hoffnungen und Träumen, von Aufbruch und Enttäuschung, von unmöglicher Liebe und davon, wie es ist, als Baum in der Stadt zu leben. Manche sind gut versteckt, andere so unscheinbar, dass man an ihnen vorbeilaufen würde. Wieder andere sind so berühmt, dass sie eigene Namen tragen oder in Gedichten verewigt wurden. Caroline Ring hat die interessantesten und bedeutendsten Stadtbäume besucht und erzählt ihre Geschichten. Sie laden dazu ein, die Stadt mit anderen Augen zu sehen.

Caroline Ring, Jahrgang 1985, studierte Biologie mit Schwerpunkt Evolutionsbiologie in Hamburg und Berlin. Nach Stationen im Berliner Naturkundemuseum, der Financial Times Deutschland und im Wissensressort der Welt arbeitet sie heute als freie Journalistin und Autorin in Berlin. 2019 wurde sie für den Holtzbrinck-Preis für Wissenschaftsjournalismus nominiert.

Die Saat des Königs


 

Stuttgart | Riesenmammutbaum (Sequoiadendron giganteum) | 156 Jahre

Knöchelhohes Gras bedeckt den Boden. Schuppige Zweige winden sich durch die Halme: Abgeworfene Nadeln von den Baumriesen, die mich umringen. Wie rostrote Elefantenbeine dringen ihre Stämme aus der Erde. Sie sind so dick, dass meine Armspanne nicht ausreicht, um sie zu umfassen. Hier und da liegen knollige Zapfen verteilt. Ich nehme einen von ihnen in die Faust. Diese Bäume sind riesig, doch ihre Zapfen sind nicht mal so groß wie ein Hühnerei. In seinen Spalten entdecke ich winzige Samen: ovale Schiffchen mit Segeln zu beiden Seiten, kaum einen halben Zentimeter lang. Erst jetzt erkenne ich, dass sie überall verstreut liegen. Ich blicke auf. Spechte haben die Rinde vieler Bäume punktiert. Weit über mir schrauben sich lange, gebogene Äste die Stämme hinauf. An ihren Enden hängen Büschel von Nadeln in dunkelgrünen Quasten. Oben bilden die Kronen ein spitz zulaufendes Dach. Ich stehe in einer Kathedrale aus Bäumen.

Für einen Moment fühle ich mich nach Kalifornien versetzt. Sechs Jahre ist es her, dass ich den Sequoia-Nationalpark besucht habe. Eigentlich war ich auf der Suche nach bestimmten Insekten, die Fahrt in den Nationalpark war ein Abstecher. Dort, vier Autostunden südöstlich von San Francisco, findet sich eine weltweit einmalige Landschaft. Es ist die Heimat der Riesenmammutbäume, die zu den größten und ältesten Lebewesen der Erde gehören. Viele von ihnen sind mehr als tausend Jahre alt. Zwischen ihnen zu wandern machte mich stumm und ehrfürchtig. Unter den Kronen der Mammutbäume fühle ich mich heute wieder klein und verletzbar und zugleich beschützt und erhaben. Doch diesmal bin ich nicht in Kalifornien. Ich bin in Stuttgart.

Ich stehe im Mammutbaum-Hain der Wilhelma, dem botanisch-zoologischen Garten im Nordosten der Stadt. Es ist eine kleine Fläche, keine 100 Meter lang, kaum 50 Meter breit. Eng beieinander stehen hier Riesenmammutbäume, viele von ihnen über 30 Meter hoch. Das Wäldchen ist mit einem kniehohen Zaun abgesperrt. Normalerweise ist es nicht erlaubt, zwischen den Bäumen hindurchzugehen. Doch ich bin mit Micha Sonnenfroh hier, dem Fachbereichsleiter der Parkpflege, der mir die Bäume zeigt und von ihnen erzählt.

In keiner anderen Stadt in Deutschland, wenn nicht sogar in Europa, kann man so viele Mammutbäume sehen wie in Stuttgart. Es sind die letzten der »Wilhelma-Saat«: Einst kamen die Riesen als Samen gemeinsam nach Baden-Württemberg. Mit ihren gut 150 Jahren sind die Bäume heute bei Weitem nicht so alt wie die in Kalifornien. In Europa gehören sie jedoch zu den ältesten und größten ihrer Art. Überall in der Stadt sind die Mammutbäume zu finden. Hier, in der Wilhelma, zog man sie alle einst heran. Die meisten der Bäume wurden über ganz Württemberg verteilt. Achtzig blieben in der Wilhelma. In dem Hain, in dem ich stehe, überdauern 35 von ihnen bis heute.

Wilhelm I., König von Württemberg, veranlasste 1864 das Pflanzen der Mammutbäume. Wenige Jahre zuvor waren europäische Entdecker in den dichten Wäldern im Nordosten Kaliforniens erstmals auf diese Bäume gestoßen. Es waren nie zuvor gesehene Baumriesen, deren Kronen im Himmel verschwanden und deren Stämme so dick waren, dass man sie nur in einer Kette von Menschen umfassen konnte. Staunend und überwältigt von den Giganten reagierten die Entdecker der Bäume äußerst menschlich: Sie holzten sie ab. 1853 fällten fünf