Kapitel
1
Wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, sich bis ganz nach oben streckte, die Wange an die Wand legte und den Kopf nach links drehte, konnte sie durch die Gitterstäbe gerade so den Rand des Monds sehen. Eine Scheibe Käse, eine Scheibe Kuchen, eine Tasse Tee, um der Höflichkeit Genüge zu tun. Einmal hatte ihr jemand eine Tasse Tee angeboten, jemand mit blaugrünen Augen und langen Ohren. Komisch, dass sie sich nicht an sein Gesicht erinnern konnte. Dieser Teil ihrer Erinnerung war neblig, wie in Rauch gehüllt, abgesehen von den Augen und Ohren. Und die Ohren waren lang und pelzig gewesen.
Als man sie gefunden hatte, hatte sie nichts anderes gesagt als: »Das Kaninchen. Das Kaninchen. Das Kaninchen.« Wieder und wieder. Immer wieder. Und jedes Mal wurde sie für verrückt erklärt. Alice wusste, dass sie nicht verrückt war. Vielleicht. Nicht richtig. Doch die Pulver, die sie ihr gaben, machten die ganze Welt unscharf und schräg, und manchmal fühlte sie sich tatsächlich verrückt.
Alles war genau so passiert, wie sie es erzählt hatte, als sie wieder mehr sagen konnte als nur »das Kaninchen«. Dor und sie waren zu Dors Geburtstag in die Alte Stadt gegangen. Sechzehnter Geburtstag. Sechzehn Kerzen auf deinem Kuchen, eine Scheibe Kuchen und eine Tasse Tee für dich, meine Liebe. Sie waren beide hineingegangen, doch nur Alice war wieder herausgekommen. Zwei Wochen später war sie blutüberströmt wieder aufgetaucht und hatte von Tee und einem Kaninchen gefaselt und ein Kleid getragen, das nicht ihres war. Rot lief es an den Innenseiten ihrer Beine entlang, und blau waren die Flecken an ihren Oberschenkeln, wo Finger sie gepackt hatten.
Ihre Hand berührte unwillkürlich ihre linke Wange und befühlte die lange, wulstige Narbe, die vom Haaransatz am Wangenknochen entlang bis zu ihrer Oberlippe verlief. Ihr Gesicht war aufgerissen gewesen, als man sie gefunden hatte, und sie hatte nicht sagen können, wie das geschehen war oder warum. Es war eine ganze Weile aufgerissen geblieben, das Blut, das aus der Wunde quoll, wurde schwarz und brackig und die Haut an den Wundrändern rissig. Die Ärzte sagten ihren Eltern, sie hätten ihr Bestes gegeben, aber ihre frühere Schönheit würde sie nie zurückbekommen.
Ihre Schwester sagte, sie sei selbst schuld. Hätte sie sich von der Alten Stadt ferngehalten, wie es ihr immer gesagt worden sei, dann wäre nichts von dem je geschehen. Sie lebten nicht ohne Grund in der Neuen Stadt, diesem Ring aus schönen, glänzenden Gebäuden, der die Alte Stadt umgab. Die Alte Stadt war nicht für Leute wie sie. Sie war für den Abschaum, für das, was man wegwarf. Alle Kinder wurden vor den Gefahren gewarnt, die ihnen drohten, wenn sie sich in die Alte Stadt wagten. Alice gehörte dort nicht hin.
Das Krankenhaus, in dem Alice die letzten zehn Jahre gelebt hatte, stand in der Alten Stadt, also hatte ihre Schwester unrecht gehabt. Alice gehörte sehr wohl dorthin.
Manchmal besuchten ihre Eltern sie, pflichtschuldig; sie rümpften die Nasen, als rieche sie irgendwie schlecht, sogar dann, wenn die Pfleger sie vorher nach draußen gezerrt und ihr ein Bad verpasst hatten. Sie hasste die Bäder. Sie waren eiskalt und bedeuteten raues Schrubben, und nie wurde ihr erlaubt, sich selbst zu waschen. Wenn sie sich wehrte oder schrie, bekam sie eins mit der Badebürste übergezogen oder wurde so fest gekniffen, dass ein Abdruck zurückblieb, immer an einer Stelle, an der man es nicht sehen konnte, an der Unterseite ihrer Brust oder am weichen Teil ihres Bauchs, immer mit dem Versprechen, dass »da, wo das herkommt, noch mehr ist«, wenn sie sich nicht benehme.
In letzter Zeit kamen ihre Eltern nicht mehr so oft zu Besuch. Alice wusste nicht mehr genau, wann sie zum letzten Mal da gewesen waren, aber sie wusste, dass es schon lange her war. In ihrem Zimmer flossen die Tage ineinander, keine Bücher zu lesen, nichts zu tun. Hatcher sagte, sie sollte turnen, damit sie fit wäre, wenn sie herauskämen, aber irgendwo tief in ihrem Herzen wusste Alice, dass sie nie wieder hier herauskommen würde. Sie war kaputt, und die Neue Stadt mochte Kaputtes nicht. Sie mochte das Neue und das Heile. Alice konnte sich kaum noch daran erinnern, wie sie neu und heil gewesen war. Dieses Mädchen von damals erschien ihr wie jemand anderes, den sie mal gekannt hatte, vor langer Zeit und weit, weit weg.
»Alice?« Eine Stimme durch das Mauseloch.
Vor vielen Jahren war eine Maus in die Wand eingedrungen und hatte sich durch die Dämmung zwischen ihrer und Hatchers Zelle geknabbert. Alice wusste nicht, was aus der Maus geworden war. Wahrscheinlich war sie in der Küche in einer Falle gefangen worden oder an der Flussseite herausgekommen und ertrunken. Aber die Maus hatte sie zu Hatcher geführt, einer rauen Stimme, die durch die Wand kam. Anfangs hatte sie wirklich gedacht, jetzt sei sie endgültig durchgedreht, dass sie Stimmen hörte.
»Hey, du«, hatte die Stimme gesagt.
Erschreckt hatte sie wild um sich geblickt und sich in eine Ecke auf der anderen Seite gedrückt, unter das Fenster, weit weg von der Tür.
»Hey, du. Hier unten«, sagte die