1. Kapitel
Nieblum,12. August1961
Schwül ist das heute wieder«, jammerte Nanny und wedelte sich mit demInselboten Luft zu. »Ich weiß, die Touristen hören es nicht gern, aber ein die Luft reinigendes Gewitter wäre wirklich ein Segen.«
»Also ich weiß gar nicht, was du hast«, meinte die neben ihr stehende Erika. »Ich finde das warme Sommerwetter herrlich, Schietwetter hatten wir dieses Frühjahr zur Genüge.« Ihr Blick fiel auf ein entzückendes kleines Mädchen in einem hellblauen Sommerkleid, das freudig an seinem Schokoladeneis schleckte und einen ganz verschmierten Mund hatte.
Die beiden befanden sich in Wyk am Fähranleger und warteten auf ihre neu ankommenden Kinder. Zwei Mädchen und ein Junge aus Bonn sollten mit der Sechzehn-Uhr-Fähre eintreffen. Für Erika war es trotz ihrer langjährigen Erfahrung als Leiterin eines Kindererholungsheims immer wieder ein aufregender Moment, ihre neuen Schützlinge kennenzulernen. Die beiden Mädchen waren sieben Jahre, der Junge zehn Jahre alt. Eigentlich hätte Erika ihre neuen Lütten gerne gemeinsam mit ihrem Ehemann Jonas abgeholt, aber dieser war kurz vor ihrer Abfahrt in seiner Funktion als Kinderarzt wegen eines Notfalls zur Familie Jansen gerufen worden. Der kleine Fiete war mal wieder von einer Biene gestochen worden, und er reagierte bedauerlicherweise allergisch. Da war rasche ärztliche Hilfe gefragt. So hatte Erika in den sauren Apfel beißen und das Chauffeursangebot ihrer Küchenmamsell Nanny Andresen annehmen müssen. Sie fuhr nicht gerne mit der Mittfünfzigerin mit, denn Nanny hatte einen, wenn man es charmant ausdrücken wollte, eigenwilligen Fahrstil.
Nanny, die ihr gelocktes Haar neuerdings rot färbte, arbeitete bereits seit über fünf Jahren als Küchenmamsell bei ihnen im Dünenhof und hatte durch ihre weltoffene Art einen frischen Wind in ihre Küche gebracht. Sie war gemeinsam mit ihrem Mann in den Dreißigerjahren nach New York ausgewandert, um dort, wie so viele andere Insulaner auch, ihr Glück zu finden. Geschuftet hatte sie in einem der zahlreichen Delicatessen Stores, den Delis, wie sie abgekürzt genannt wurden. Irgendwo in Brooklyn, dort, wo die Häuserschluchten das tägliche Bild prägten und es keinen Feierabend gab. Nachdem ihr Mann Johannes bei einem Überfall auf ihren Deli erschossen worden war, war sie heimgekehrt. Zurück nach Föhr, dorthin, wo man die Haustüren auch nachts nicht zusperrte und keine bewaffneten Männer in den Laden stürmten und einem das Liebste auf der Welt nahmen. Doch auf Föhr war die Zeit nicht stehen geblieben, die vertraute Heimat war ihr fremd vorgekommen, kleinbürgerlich und spießig. Der alte Hof ihrer Eltern in Utersum war heruntergekommen, die Mutter kurz nach ihrer Rückkehr, sie hatte ihre Tochter nicht mehr erkannt, für immer eingeschlafen. Drei Tage nach der Beerdigung hatte sich Nanny bei ihnen im Dünenhof beworben, und sie hatten sie sofort eingestellt. So waren sie auf ganz Föhr vermutlich das einzige Kinderhaus, in dem es Pastrami-Sandwiches für die Lütten gab. Eine fleischlastige Spezialität aus den New Yorker Delis, die sich bei den Kindern höchster Beliebtheit erfreute.
Um sie herum herrschte der übliche Trubel, den die Ankunft und Abfahrt der Fähre mit sich brachte. Liefer- und Lastwagen standen kreuz und quer, Taxis hupten, Touristen aller Altersklassen sorgten für die gewohnte Geräuschkulisse. Kinder plärrten, eine alte Frau hatte Mühe, ihren Rauhaardackel namens Alfred im Griff zu behalten, der Hund kläffte lautstark und zerrte an seiner Leine. Möwen und andere Seevögel flatterten über der Mole. Auf dem sich neben dem Anleger befindlichen Strand herrschte die der Jahreszeit entsprechende Betriebsamkeit. Sämtliche Strandkörbe waren belegt, Kinder bauten Strandburgen, Fähnchen und Wimpel flatterten im Wind, und ein Eisverkäufer bot lautstark seine süße Ware an. Die Fähre war bereits in Sichtweite. Das elegante Schiff mit dem friesischen Namen Rüm Hart, was so viel bedeutete wie reines, weites Herz, steuerte über das glitzernde Meer auf sie zu, und Erika wünschte sich in diesem Augenblick, es wäre bereits der nächste Tag. Denn dann würde sie erneut hier stehen