: J. Courtney Sullivan
: Sommer in Maine Roman
: Carl Hanser Verlag München
: 9783552062184
: 1
: CHF 10.70
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 512
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein Sommer in Maine, vier Frauen und ihre Abgründe: Alice, die oft streng und unnahbar wirkt, würde alles dafür geben, eine einzige tragische Nacht in ihrem Leben ungeschehen zu machen, aber auch Tochter Kathleen, Enkelin Maggie und die scheinbar so perfekte Schwiegertochter Ann Marie, die am liebsten Puppenhäuser bastelt, haben panische Angst davor, dass ihre dunklen Geheimnisse ans Licht kommen könnten. Doch die Wogen gehen hoch zwischen den ungleichen Frauen, und die Fassaden bröckeln ... Eine meisterhaft erzählte Familiengeschichte in der Tradition der großen amerikanischen Romanciers.

J. Courtney Sullivan, Autorin und Journalistin, lebt in New York und schreibt u.a. für New York Times, Chicago Tribune, Elle und Men's Vogue. Ihr Roman Maine, der 2013 unter dem Titel Sommer in Maine bei Deuticke erschien, war in den TOP 10 der besten Bücher 2011 des Time Magazines. Außerdem bei Deuticke erschienen: die Romane Die Verlobungen (2014), All die Jahre (2018) und Aller Anfang (2019).

Maggie


Es war der erste Sonntag im Juni, ein Tag vor ihrer geplanten Abreise nach Maine zusammen mit Gabe. Maggie hatte sich zwei Wochen Urlaub genommen. Normalerweise war sie vor der jährlichen Fahrt so euphorisch und aufgeregt, wie sie es als Kind gewesen war, wenn sie ihrem Vater beim Beladen des Autos zugesehen hatte, bevor es Richtung Cape Neddick losging. Aber diesmal hatte sie Angst.

Schon morgen würden sie am Strand sein. Morgen würde sie es Gabe endlich sagen. Sie stellte sich vor, wie sie seine Hand nahm und ihn zum steinernen Steg hinunterführte. Sie würde gar nicht erst um den heißen Brei herumreden: »Schatz, ich hab Neuigkeiten.«

Dann würde das richtige Leben zu zweit beginnen: Ihr zweiter Jahrestag, dann die Zweiraumwohnung in Manhattans East Village. Oder Gabe würde Panik kriegen und alles würde ganz anders kommen.

Sie weckte ihn mit einer Flut von Küssen, die sie über sein Gesicht, seinen Nacken und seine Brust verteilte, und hoffte, so ihre Nervosität zu verstecken.

»So, dann packen wir mal deinen Kram!«, sagte sie.

Neben dem Bett stand ihr prall gefüllter Louis Vuitton. Tante Ann Marie hatte Maggie den ausrangierten Koffer fürs Auslandsstudium vor zehn Jahren geschenkt. Maggies Mutter war stinksauer gewesen, aber Maggie hatte sich sehr gefreut. Sie hatte ihn am Abend zuvor aus ihrer Wohnung mitgebracht. Heute übernachtete sie noch ein zweites Mal bei Gabe und am nächsten Tag sollte es gegen Mittag losgehen, gleich nachdem Gabe den frühen Fototermin erledigt hatte. Er hatte nichts dagegen, vor der Reise zwei Nächte hintereinander mit ihr zu verbringen – das allein war schon ein gutes Zeichen, schließlich brauchte Gabe gewöhnlich viel Zeit und Raum für sich. Bis vor kurzem war es für sie fast selbstverständlich gewesen, dass sie sich gemeinsame Zeit mit ihm erkämpften musste, aber vielleicht änderte sich das gerade.

Er lachte ins Kissen. »Maggie, es ist mitten in der Nacht. Außerdem fahren wir erst morgen«, sagte er.

Eigentlich war es schon fast zehn Uhr, aber sie sagte dazu nichts und kochte stattdessen Kaffee. Normalerweise wachte er vor ihr auf und bis sie aufstand war das Frühstück schon fertig: Omelette, Bratkartoffeln, Würstchen und Waffeln, alles in einem einzigen Gang, wie bei einem Truckerpaar. In den zwei Jahren ihrer Beziehung hatte sie drei Kilo zugelegt, aber er schien es nicht bemerkt zu haben.

Durch das Küchenfenster sah sie einen Obdachlosen seinen Einkaufswagen über den Bürgersteig schieben. Auf der anderen Straßenseite saßen ein paar Hipster in engen, dunklen Jeans auf einem besprayten Treppenaufgang und teilten sich eine Zigarette. Im Gegensatz zu Gabe konnte sie an dieser Gegend nichts Schönes finden. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie es sein würde, ihr geliebtes, grünes Brooklyn Heights zu verlassen und Abschied zu nehmen von den schönen Backsteinhäusern, dem Blick auf die Manhattan Skyline und die Brooklyn Bridge von der Promenade aus und dem so