Maggie
Es war der erste Sonntag im Juni, ein Tag vor ihrer geplanten Abreise nach Maine zusammen mit Gabe. Maggie hatte sich zwei Wochen Urlaub genommen. Normalerweise war sie vor der jährlichen Fahrt so euphorisch und aufgeregt, wie sie es als Kind gewesen war, wenn sie ihrem Vater beim Beladen des Autos zugesehen hatte, bevor es Richtung Cape Neddick losging. Aber diesmal hatte sie Angst.
Schon morgen würden sie am Strand sein. Morgen würde sie es Gabe endlich sagen. Sie stellte sich vor, wie sie seine Hand nahm und ihn zum steinernen Steg hinunterführte. Sie würde gar nicht erst um den heißen Brei herumreden: »Schatz, ich hab Neuigkeiten.«
Dann würde das richtige Leben zu zweit beginnen: Ihr zweiter Jahrestag, dann die Zweiraumwohnung in Manhattans East Village. Oder Gabe würde Panik kriegen und alles würde ganz anders kommen.
Sie weckte ihn mit einer Flut von Küssen, die sie über sein Gesicht, seinen Nacken und seine Brust verteilte, und hoffte, so ihre Nervosität zu verstecken.
»So, dann packen wir mal deinen Kram!«, sagte sie.
Neben dem Bett stand ihr prall gefüllter Louis Vuitton. Tante Ann Marie hatte Maggie den ausrangierten Koffer fürs Auslandsstudium vor zehn Jahren geschenkt. Maggies Mutter war stinksauer gewesen, aber Maggie hatte sich sehr gefreut. Sie hatte ihn am Abend zuvor aus ihrer Wohnung mitgebracht. Heute übernachtete sie noch ein zweites Mal bei Gabe und am nächsten Tag sollte es gegen Mittag losgehen, gleich nachdem Gabe den frühen Fototermin erledigt hatte. Er hatte nichts dagegen, vor der Reise zwei Nächte hintereinander mit ihr zu verbringen – das allein war schon ein gutes Zeichen, schließlich brauchte Gabe gewöhnlich viel Zeit und Raum für sich. Bis vor kurzem war es für sie fast selbstverständlich gewesen, dass sie sich gemeinsame Zeit mit ihm erkämpften musste, aber vielleicht änderte sich das gerade.
Er lachte ins Kissen. »Maggie, es ist mitten in der Nacht. Außerdem fahren wir erst morgen«, sagte er.
Eigentlich war es schon fast zehn Uhr, aber sie sagte dazu nichts und kochte stattdessen Kaffee. Normalerweise wachte er vor ihr auf und bis sie aufstand war das Frühstück schon fertig: Omelette, Bratkartoffeln, Würstchen und Waffeln, alles in einem einzigen Gang, wie bei einem Truckerpaar. In den zwei Jahren ihrer Beziehung hatte sie drei Kilo zugelegt, aber er schien es nicht bemerkt zu haben.
Durch das Küchenfenster sah sie einen Obdachlosen seinen Einkaufswagen über den Bürgersteig schieben. Auf der anderen Straßenseite saßen ein paar Hipster in engen, dunklen Jeans auf einem besprayten Treppenaufgang und teilten sich eine Zigarette. Im Gegensatz zu Gabe konnte sie an dieser Gegend nichts Schönes finden. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie es sein würde, ihr geliebtes, grünes Brooklyn Heights zu verlassen und Abschied zu nehmen von den schönen Backsteinhäusern, dem Blick auf die Manhattan Skyline und die Brooklyn Bridge von der Promenade aus und dem so