1. Kapitel
Baltimore, Maryland
Dienstag,3. Dezember,9.55 Uhr
Die Motorhaube war eiskalt. Special Agent Joseph Carter,FBI, nahm die Hand von dem Chevy Suburban, der Ford Elkhart gehörte, und streckte die Finger, um den Frost zu vertreiben. Er hatte seine Lederhandschuhe zu Hause gelassen und trug nur dünnes Latex, um nicht zu kontaminieren, was möglicherweise Beweisstück in einem Verbrechen war.
Möglicherweise, aber nicht wahrscheinlich. Fords Chef war zwar davon überzeugt, dass dem Jungen etwas Schlimmes passiert war, aber Joseph hielt es für realistischer, dass der zwanzigjährige Collegestudent gestern Abend mit seiner Freundin nach Hause gegangen war, um wilden Sex zu haben.
Allerdings war Fords Chef Josephs Vater, deswegen fand Joseph, er könne durchaus eine Stunde erübrigen und nach dem Jungen sehen, um seinen Dad ein wenig zu beruhigen.
Und, wie Joseph sich eingestehen musste, auch sich selbst. Denn obwohl er im Grunde überzeugt war, dass Ford und sein Häschen im schön warmen Bett horizontalen Tango tanzten, würde die Unwissenheit so lange an ihm nagen, bis er sie beseitigt hätte. Ford hatte auf ihn immer einen zuverlässigen Eindruck gemacht, und es sah ihm gar nicht ähnlich, seiner Arbeit fernzubleiben, ohne auch nur anzurufen.
Falls ihm etwas zugestoßen war, wäre die Mutter des Jungen am Boden zerstört.
Und das hatte eine Frau wie Fords Mutter nicht verdient. Obwohl sie alleinerziehend gewesen war, hatte sie ihr Jurastudium geschafft und war nun eine erfolgreiche Staatsanwältin, die nebenbei eine beeindruckende Liste an Wohltätigkeitsveranstaltungen abarbeitete. Sie war eine auffällige Person, die nicht viel von Zurückhaltung hielt, herzlich, sympathisch und sehr, sehr clever.
Und sie hatte unglaubliche Beine. Joseph stieß geräuschvoll den Atem aus, der als Wölkchen in der kalten Luft hängenblieb, und dachte an seine erste Begegnung mit Assistant State’s Attorney Daphne Montgomery mehr als neun Monate zuvor.
Nein, er hatte die Beine nicht vergessen können. Eigentlich hatte er nichts, was sie betraf, vergessen können. Er hatte es versucht. Oft sogar. Aber nun war sie vergeben.Weil ich zu lange gewartet habe.
Sich zu vergewissern, dass ihrem Sohn nichts passiert war, war also das mindeste, das er tun konnte. Verdammt, es war das Einzige, das er tun konnte. Weil er so lange gewartet hatte, dass nun ein anderer Mann diese Beine aus nächster Nähe zu sehen bekam – und den Rest von ihr auch.
Sein Handy summte in seiner Jackentasche. Froh über die Gelegenheit, seine Gedanken von der gerade eingeschlagenen Richtung abzubringen, zog er es heraus. Es überraschte ihn nicht, welche Nummer auf dem Display stand, eher erstaunte es ihn, dass sein Vater so lange gewartet hatte, um nachzufragen, ob es etwas Neues gäbe.
Jack Carter,CEO eines Elektronikunternehmens, das seine Finger in allem, angefangen bei Leitsystemen bis hin zu mikroprozessorgesteuerten Prothesenimplantaten, hatte, war die Verkörperung des Begriffs Multitasking. Der Begriff »Geduld« dagegen kam in seinem Wortschatz nur am Rande vor.
»Und?«, fragte sein Vater. »Hast du ihn gefunden?«
»Seinen Suburban habe ich gefunden«, antwortete Joseph. »Etwa einen Block von der Penn Station entfernt.«
»Aber was soll er denn am Bahnhof gemacht haben? Sein Freund hat gesagt, er hätte auf Facebook gepostet, dass er sich mit seiner Freundin einen Film für Französisch angucken wollte.«
»Es gibt nur zwei Kinos in der Stadt, die französische Filme zeigen, und eins davon ist in der Nähe des Bahnhofs. Ich habe so lange gesucht, bis ich denSUV gefunden hatte. Sieht so aus, als hätte er die ganze Nacht da gestanden.«
»Eine gefährliche Gegend.«
»Am Tag geht’s eigentlich.« Joseph beobachtete, wie ein Obdac