: Miriam Georg
: Elbleuchten
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644006935
: Eine hanseatische Familiensaga
: 1
: CHF 10.00
:
: Historische Romane und Erzählungen
: German
: 640
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Das Leuchten einer neuen Welt Lily Karsten ist Tochter einer der erfolgreichsten Reederfamilien Hamburgs. Sie lebt in einer Villa an der Bellevue und träumt von der Schriftstellerei. Und sie glaubt, dass sie ihren Verlobten Henry liebt. An einem heißen Sommertag 1886 hält sie bei einer Schiffstaufe die Rede, als plötzlich eine Windbö ihren Hut in die Elbe weht. Ein Arbeiter soll ihn zurückholen - und gerät in einen grauenhaften Unfall. Jo Bolten lebte als Kind im Elend des Altstädter Gängeviertels, jetzt arbeitet er im Hafen für Ludwig Oolkert, den mächtigsten Kaufmann der Stadt. Jo will bei den Karstens für seinen verletzten Freund um Hilfe bitten, aber er wird kaltherzig abgewiesen. Lily will unbedingt helfen! Also nimmt Jo sie mit in seine Welt, in der der tägliche Kampf ums Überleben alles bestimmt. Mit eigenen Augen sieht Lily das Elend der Menschen und erkennt die Ungerechtigkeiten zwischen Männern und Frauen. Bald kommen Lily und Jo sich näher. Doch eine Verbindung zwischen ihnen ist undenkbar. Und Jo hat ein Geheimnis, von dem Lily niemals erfahren darf ...

MIRIAM GEORG, geboren 1987, ist die Autorin des Zweiteilers «Elbleuchten» und «Elbstürme». Beide Bände der hanseatischen Familiensaga wurden von Leserinnen und Lesern gefeiert, sie schafften auf Anhieb den Einstieg auf die Bestsellerliste und wurden zum Überraschungserfolg des Jahres. Die Autorin hat einen Studienabschluss in Europäischer Literatur sowie einen Master mit dem Schwerpunkt Native American Literature. Wenn sie nicht gerade reist, lebt sie mit ihrer gehörlosen kleinen Hündin Rosali und ihrer Büchersammlung in Berlin-Neukölln.

2


Die Ratte war krank, daran gab es keinen Zweifel. Jo beobachtete sie schon eine ganze Weile. An die Wand des Hinterhofs gelehnt, sah er zu, wie das Tier vor sich hin taumelte und sich immer wieder wie im Fieberwahn schüttelte. Die schwarzen Augen waren von einem Schleier überzogen, an der Schnauze klebte Blut.

Jo hasste Ratten, sie erinnerten ihn an die Zeit im Gefängnis, als sie im Dunkeln angefangen hatten, an seinen Zehen zu nagen. Als er klein war, hatte sich einmal eine Ratte mit ins Bett geschlichen und das Ohr seines Bruders angefressen. Noch heute konnte man den Riss sehen, wo sie ein Stück aus ihm herausgebissen hatte. Wilhelm hatte eine schreckliche Entzündung bekommen. Ihr Vater hatte einen guten Teil seines Jahresgehaltes für seine Behandlung ausgeben müssen.

Das Tier zu seinen Füßen hatte sich offenbar an den fauligen Abfällen des Viertels mehr als gütlich getan. Es war so fett, dass sein Bauch im Dreck schleifte. Die Ratten sind hier nun mal die Einzigen, die sich satt fressen können, dachte Jo verbittert und spuckte einen Krümel Tabak auf den Boden. Aber das, was er erledigen musste, gab es eben nicht in der Bellevue.

Das gab es nur hier. Im schwarzen Herzen Hamburgs.

Auf seinem Weg zu dem Haus, dessen Adresse auf einem Zettel in seiner Westentasche stand, war er an mehr Prostituierten und Bettlern vorbeigekommen, als er zählen konnte. Der Verwesungsgestank aus den Fleeten mischte sich mit dem Qualm der unzähligen Schornsteine. Verwahrloste Kinder, die auf ihren durch Rachitis krumm gewordenen Beinen kaum richtig laufen konnten, rangelten um Stöcke und leere Konservendosen. Jo wusste, wie es war, hier aufzuwachsen. Die stinkenden Gassen des Altstädter Gängeviertels zwischen Stein-, Spitaler- und Niedernstraße waren auch sein Zuhause. Allerdings gab es einen Unterschied zwischen ihm und den Kindern. Er hatte Arbeit, verdiente Geld, konnte seine Familie zumindest so weit über Wasser halten, dass seine Geschwister nicht mehr nachts vor Hunger wachlagen.

Er konnte die Angst und die Wut der Frau, die heute auf die Karstens losgehen wollte, nur zu gut nachvollziehen. Als sein Vater damals den tödlichen Unfall hatte, war er eine Weile sicher gewesen, dass sie alle sterben würden. Wenn sie sich nachts zusammendrängten und das Knurren ihrer Mägen sie wachhielt, stellte er sich vor, wie sie am Morgen erfroren und verhungert dalagen. Leni war schließlich wirklich gestorben. Sie war zu klein gewesen, ihr Körper zu geschwächt. Als der Winter kam und die Wohnung so kalt wurde, dass morgens die Decken steif gefroren waren, reichte die erste Erkältung. Sie war in den Armen seiner Mutter eingeschlafen, kaum mehr als ein Skelett mit Haut überspannt, ihre großen blauen Augen fragend auf ihn geheftet, als wollte sie wissen, warum er zuließ, dass sie so leiden musste. Es war schrecklich gewesen, die dunkelste Stunde seines Lebens. Noch heute sah