Kapitel 1
Der Geschmack der Angst
Irgendwo in einem Wald in den USA
Der Kerl auf der anderen Seite des Feuers musterte Red von oben bis unten, von den wilden Korkenzieherlocken, die unter ihrer roten Kapuze hervorlugten, bis zu dem kleinen Beil, das neben ihr auf dem Boden lag. Sein Blick huschte von dem getrockneten Blut an der Klinge – im schwachen Feuerschein kaum mehr als ein Schatten – zu dem gut gefüllten Rucksack daneben und wieder zurück zu ihrem Gesicht. Sie hielt ihren Gesichtsausdruck so neutral wie möglich, nichtssagend wie Milchreis.
Red wusste genau, was er dachte. Was er glaubte, ihr antun zu können. Männer wie ihn gab es überall, hatte es schon gegeben, bevor die Welt auseinandergefallen war, und es brauchte keine besondere Wahrnehmungsgabe, um zu erkennen, was in den Augen dieser Männer stand. Zweifellos hatte er seit Beginn derKRISE (in Gedanken schrieb Red sie immer in Großbuchstaben) schon reichlich vergewaltigt und gemordet und gestohlen. Er hatte Menschen verletzt, die er für schwach hielt oder die er überraschen konnte, und so hatte er überlebt.
Viele Menschen glaubten sich Red überlegen, weil sie eine einbeinige Frau mit einer Prothese war, hielten sie für langsam oder unfähig und meinten, sie könnten sie leicht überwältigen. Viele Menschen hatten bereits herausgefunden, dass sie damit falschlagen. Gerade eben erst hatte diese Erkenntnis wieder jemanden getroffen – daher das Blut an dem Beil, das die Aufmerksamkeit des Fremden, der ungebeten an ihr Feuer gekommen war, so fesselte.
Eigentlich hätte sie die Klinge säubern müssen, auch wenn es ihr egal war, ob das Blut ihm Angst einjagte oder nicht. Sie hätte es tun sollen, weil das Beil, abgesehen von ihrem Verstand, die einzige Waffe war, die sie zu ihrer Verteidigung besaß. Sie sollte sie besser pflegen.
Er war mit breitbeinig wiegendem Gang unter den Bäumen hervor- und auf die Lichtung getreten, mit dieser Haltung, die besagte: »Hey, kleine Lady, du sehnst dich doch bestimmt nach ein bisschen Gesellschaft.« Er hatte etwas über die kalte Nacht gesagt und wie hübsch ihr Feuer aussah. Sein kurzes stacheliges Haar stand steif vom Kopf ab, als hätte er es mal vollständig abrasiert und jetzt wüchse es heraus. Hatte er sich den Schädel rasiert, weil er Soldat gewesen war? Falls ja, war er jetzt wahrscheinlich Deserteur. Er wirkte mager und drahtig, mit fester, trockener Muskulatur, was sie an einen Kojoten denken ließ. Einen hungrigen Kojoten.
Immerhin sah er nicht krank aus. Natürlich sahen sie nie krank aus, wenn sie sich infizierten, aber schon bald fingen sie an zu husten, und ihre Augen röteten sich, weil so viele Blutgefäße platzten, und ein paar Tage, nachdem derHUSTEN begann, nun … es fing täuschend harmlos an. Dieser Husten, eine leichte Trockenheit in der Kehle, die man nicht wieder loswurde, und dann wurde es ganz plötzlich sehr viel mehr, wie ein harmloses Geplänkel, das sich unversehens zu einem Weltkrieg auswuchs.
Die Ausbeulung an der Hüfte unter seinem schäbigen Mantel entging Red nicht. Sie fragte sich beiläufig, ob er mit einem Revolver umgehen konnte oder ob er es nur genoss, seine Männlichkeit damit zu unterstreichen.
Sie wartete ab. Sie musste nicht höflich zu jemandem sein, der sie für sein nächstes Opfer hielt. Er hatte sich nicht vorgestellt, obwohl er an ihr Feuer getreten war, das sie so mühsam errichtet hatte, und seine Hände daran wärmte.
»Bist du …?«, fing er an, während sein Blick wieder über sie hinwegglitt. Als er das Metall an ihrem linken Knöchel aufblitzen sah, gerade so sichtbar unter dem aufgekrempelt