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Berlin, 17. Dezember 1946
Sie war gerade erst aus dem Haus getreten, da tat ihr der Streit eben am Frühstückstisch schon wieder leid. Aber kaum jemand konnte Rike Thalheim so rasch auf die Palme bringen wie ihre jüngere Schwester Silvie. Mit den blonden Haaren, den veilchenblauen Augen und den rosigen Lippen sah sie aus wie die Unschuld in Person – dabei hatte Silvie es faustdick hinter den hübschen Ohren.
«Natürlich brauchen wir einen Baum! Sonst ist es doch kein richtiges Weihnachten», hatte sie trompetet, als Rike ihre Familie vorsichtig darauf einstimmen wollte, dass es dieses Jahr leider ohne gehen müsse. Rübenkraut, hartes Brot, Muckefuck – angesichts dieses kargen Frühstücks hätte man fast glauben können, der Krieg sei noch immer nicht vorbei. Doch das war er, bereits seit mehr als anderthalb Jahren. Dennoch war die Not überall in Deutschland immens groß – und die Lebensmittelzuteilungen der Alliierten verschwindend klein.
«Und woher sollen wir diesen Baum bitte nehmen?» Es war Rike schwergefallen, Floris herabgezogene Mundwinkel zu übersehen. Florentine, genannt Flori, war das Nesthäkchen der Familie. Sie würde doch nicht zu weinen anfangen? «Sogar der große Tiergarten ist bis auf den letzten Strauch abgeholzt, weil die frierenden Berliner alles verfeuert haben.»
Auch Brennmaterial fehlte hinten und vorne. Alles nur Denkbare hatten die Menschen benutzt, um gegen die beißende Kälte anzukämpfen, doch nun schienen die Quellen nahezu versiegt.
«Dir fehlt es einfach an Phantasie, Schwesterherz», fuhr Silvie fort. «In Zeiten wie diesen muss man offen für ungewöhnliche Lösungen sein, sonst wird es natürlich nix.»
«Wenn das heißen soll, dass du dich wieder auf dem Schwarzmarkt rumtreiben willst …»
«Die Speckschwarte in der Graupensuppe hat euch allen doch gut gemundet, oder?» Wenn nötig, konnte Silvie scharf zurückschießen. «Also sag mir gefälligst nicht, wie ich meine Geschäfte betreiben soll, sondern kümmere dich lieber um deine eigenen Angelegenheiten!»
Dass sie stets das letzte Wort haben musste!
So war es schon gewesen, als sie noch Kinder waren. Rike liebte ihre Schwester, aber sie gerieten immer aneinander, zwei starke Persönlichkeiten, charakterlich so unterschiedlich wie Tag und Nacht – und dennoch untrennbar miteinander verbunden, sobald es darauf ankam.
Ein letztes Mal schaute sie hoch zu den Eisblumenfenstern im zweiten Stockwerk, als ihr ein frostiger Windstoß unter die Röcke fuhr. Rike steckte die Hände in die Taschen des braunen Mantels, der ihr inzwischen viel zu weit geworden war, und marschierte los. Allmählich gingen ihnen die Kleidungsstücke aus. Das Stofflager auf dem Speicher, das noch aus Vorkriegszeiten stammte, einzig und allein für die Kundschaft bestimmt, leerte sich bedenklich, weil sie nach und nach alles für den Laden verarbeitet hatten. Dabei mussten sie doch auch selbst anständig angezogen sein, wenn sie andere Frauen zum Kauf animieren wollten! Schnee knirschte unter ihren Füßen, während sie ausschritt, von den meisten Dachrinnen hingen fette weiße Eiszapfen. Zu Fuß war es nicht weit von der Bleibtreustraße, wo die Familie reichlich beengt in der ehemaligen Wohnung von Oma Frida untergekommen war, bis hin zum Savignyplatz, an dem der kleine Laden