Das Schönste, was sie jemals gesehen hat!
Überwältigt greift Rike nach der Hand ihres Vaters. Ganz kurz geniert sie sich dafür, weil sie doch seine Große ist und schon lange kein Baby mehr wie ihre jüngeren Geschwister. Aber die Zwillinge jagen sich längst übermütig auf den Rolltreppen, Oskar wie immer vorneweg, Silvie ihm hinterher. Als Mama ihn ermahnt, denkt er nicht daran, zu gehorchen. Wozu ist er schließlich der Kronprinz der Familie? Für Papa steht fest, dass natürlich er einmal sein Nachfolger wird. Deshalb nimmt Oskar sich schon jetzt mehr raus als seine beiden Schwestern zusammen. Sogar im Auto hat er Rabatz gemacht, als Papa verlangte, die ganze Familie solle während der Fahrt zum Ku’damm schwarze Augenbinden tragen – um die Überraschung noch größer zu machen.
Nun steht Rike im Foyer, legt den Kopf in den Nacken und blickt nach oben, aber sie erkennt das Kaufhaus Thalheim & Weisgerber kaum wieder, so sehr hat es sich verändert. Hier, vom Erdgeschoss aus, kommt es ihr viel luftiger und auch größer vor, dabei hat es nach wie vor drei Stockwerke.
Aber dieses riesige neue Glasdach, durch das der blauweiße Sommerhimmel grüßt!
Lichter, so hell, dass es sie fast blendet.
Farben, nichts als Farben.
Ein Marmorbrunnen im Parterre, der gleich neben ihr bunt erleuchtete Fontänen sprüht.
Die neuen Rolltreppen, die lautlos nach oben oder unten gleiten und mühsames Steigen ersetzen.
Geräumige Probierkabinen mit weißen Vorhängen.
Dezente Duftbrisen, die im Intervall durch die Belüftungsanlagen strömen.
Verführung zum Kaufrausch – allerdings nur für jene, die es sich auch leisten können.
Überall Stangen mit Kleidern, Mänteln, Hosen, Blusen, Jacken, dahinter zahllose Regale und davor einladende Verkaufstische, auf denen sich Hemden, Strümpfe, Handschuhe und Gürtel stapeln, alles eben, was die moderne Dame und der moderne Herr zum Leben brauchen. Dazwischen elegant drapierte Schaufensterpuppen, so lebensecht, als würden sie im nächsten Moment zu laufen oder zu sprechen beginnen. Rike berührt die feinen Stoffe verstohlen im Vorbeigehen und spürt dabei Leinen, Wolle und Seide. Sie liebt alles, was gewebt, gewirkt oder gesponnen ist, interessiert sich für Schnitte und Kleidergrößen, Kragenformen und Ärmelvarianten, viel mehr als für die Gebirgszüge Europas oder diese endlosen englischen Vokabeln, die ihr nun schon im zweiten Jahr auf dem Westendgymnasium eingetrichtert werden. Mathe dagegen und überhaupt alles, was mit Zahlen zu tun hat, liegt ihr, auch wenn so mancher vielleicht den Kopf darüber schüttelt, weil sie doch ein Mädchen ist.
«Ein Zauberreich», murmelt sie und lässt ihren verzückten Blick über all die ausgestellten Schätze gleiten, während die 13-köpfige Gruppe mit der Rolltreppe in den ersten Stock fährt. «Und du, Papa, du bist hier der Magier!»
«Es gefällt dir?», hört sie ihn sagen.
Rike nickt begeistert, merkt dann aber plötzlich, dass sie gar nicht gemeint war. Mama ist es, der Papas besorgte Frage gilt, ihre wunderschöne Mutter mit den schwarzen Haaren und den gewitterblauen Augen, für die die neue Mode mit der betonten Schulterpartie, den wadenlangen Röcken und der enggegürteten Taille wie gemacht ist. Heute trägt Alma Thalheim ein blaues Seidenkleid mit cremeweißen Tupfen nebst passendem Bolero, das sie geradezu königlich aussehen lässt. Aber selbst schlicht in Rock und Twinset gekleidet, gelingt es ihr spielend, a