: Alexander Grau
: Anne Hamilton
: Kulturpessimismus Ein Plädoyer
: zu Klampen Verlag
: 9783866747258
: zu Klampen Essays
: 1
: CHF 11.60
:
: Essays, Feuilleton, Literaturkritik, Interviews
: German
: 160
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Autoritär, antidemokratisch, ewiggestrig: Das sind die Attribute, die dem Kulturpessimismus heute angeheftet werden. In einer Welt der globalisierten Moderne gelten seine Vertreter bestenfalls als Spielverderber. Dass eine kulturpessimistische Haltung auf kritischer Analyse beruht, war zwar noch in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts für jeden etwa an Adorno geschulten Geist eine Selbstverständlichkeit. Heute aber schließen die Wortführer des Zeitgeists nahezu alles, was sich als »Kultur« ausgibt, unterschiedslos in die Arme und erheben auch das Trivialste zum schützenswerten Gut. Wenn jede kulturelle Äußerung als sakrosankt gilt, ist Kulturkritik passé. Weil sich unsere Gesellschaft von jeder ernsthaften Form der Kulturkritik verabschiedet hat, begrüßt sie ihren eigenen kulturellen Niedergang als Fortschritt. Doch eine Kultur, die sich nicht mehr selbstverständlich als behauptenswert betrachtet, droht sich aufzugeben. In unserem Falle bedeutet dies, hinter die Ideale der Aufklärung - Freiheit, wissenschaftliche Rationalität und Individualismus - zurückzufallen. Alexander Grau versucht, Kulturpessimismus unter den Bedingungen globalisierter Wohlstandsgesellschaften als Geisteshaltung zu rehabilitieren, frei von raunender Geschichtsmetaphysik und nostalgischer Verklärung.

Alexander Grau, geboren 1968, studierte an der Freien Universität Berlin Philosophie und Linguistik. Seit 2003 arbeitet er als freier Publizist, Kultur- und Wissenschaftsjournalist und veröffentlicht zu Themen der Kultur- und Ideengeschichte. Seit Juni 2013 veröffentlicht Alexander Grau wöchentlich die Kolumne »Grauzone« bei »Cicero Online«. Zuletzt ist von ihm erschienen »Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung« (2018).

I. Nach der Kultur


KULTUR ist das, was anders sein könnte. Das unterscheidet sie von der Natur. Denn Kulturen beruhen auf Konventionen. Anders die Natur. Auch sie könnte theoretisch anders sein. Doch vor dem Hintergrund der gegebenen Bedingungen haben ihre Gesetze universale Gültigkeit. Es gibt keine unkonventionellen Naturereignisse. Wenn etwa das Glucoseniveau im Blut eines Menschen einen gewissen Schwellenwert unterschreitet, dann hat er Hunger und wird, sofern es ihm möglich ist, Nahrung zu sich nehmen. Was er jedoch isst, welche Sitten er dabei hat, welche Tischmanieren, das ist kulturell bedingt. Menschen können mit den Händen essen, mit Messer und Gabel, mit Stäbchen – sie können aber nicht nicht essen.

Allerdings ist die kategoriale Trennung von Kultur und Natur, die insbesondere das abendländische Denken seit dreitausend Jahren beherrscht, künstlich. Denn Kultur basiert auf Natur. Kultur ist, wenn man so will, Natur mit anderen Mitteln. Sie ermöglicht dem Menschen Anpassungsleistungen an seine Umwelt, die mit rein evolutionsbiologischen Mitteln ungleich länger dauern würden und sehr viel unsicherer in ihrem Ausgang wären. Zugleich prägt die Kultur die Natur. Denn Menschen haben gelernt, ihre Umwelt zu manipulieren. Etwa so, dass sie Nahrungsmittel in einem Maße bereitstellt, die den natürlichen Gegebenheiten zuwiderläuft. Das Mittel dazu bietet die Landwirtschaft, der Ackerbau, vulgo: die Kultivierung der Natur. Also genau das, was das Wortcultura im Lateinischen bezeichnet.

Diese Form von Kultivierung des Natürlichen war allerdings nur deshalb möglich, weil der Mensch von Natur aus ein Allesfresser ist. Er kann als Eskimo sich nahezu ausschließlich von Fisch und Robbenfleisch ernähren oder, wie die arme Landbevölkerung Europas über Jahrhunderte, weitgehend von Getreidebrei. Weder das eine noch das andere ist aus Sicht moderner Ernährungshypochonder besonders gesund, es funktioniert aber. Kultur unter dieser weit gefassten Perspektive ist also die Manipulation des natürlich Gegebenen im Rahmen des natürlich Gegebenen und damit die Eröffnung neuer Handlungsmöglichkeiten. Indem der Mensch Landschaften und Gegenstände schuf, eröffnete er sich neue Handlungsräume und erschloss sich Potentiale. Erst Kultur ermöglichte es ihm, ein Leben zu führen, das sich von demjenigen anderer Säugetiere grundlegend unterscheidet.

In diesem Sinne also ist jedes Artefakt ein Kulturgegenstand und die Fähigkeit, diese Artefakte herzustellen und ihre Produktionstechnik zu überliefern, Kultur. Das klingt nüchtern, ist es aber nicht: Der Fertigkeit, Umwelt zu gestalten, wohnt eine normative und normierende Kraft inne. Denn das Natürliche ist das Beliebige, Chaotische, Urwüchsige, Kultur hingegen das Geordnete, Systematische und Geregelte. Ihr Zweck ist Beständigkeit. Sie ermöglicht den sesshaft gewordenen Menschen Kontinuität und Stetigkeit. Kultur sichert Räume, um Zeit berechenbar zu machen. Kultur soll vor Überraschungen schützen. Aus diesem Grund ist nicht erst Religion im engeren Sinne, sondern Kultur als Ganzes Kontingenzbewältigung. Sie versucht, die Welt übersichtlicher und kalkulierbarer zu machen. Zumindest bis zur nächsten Ernte und zum Waldrand hinter dem Feld. Kultur dient insofern der Beruhigung. Sie markiert einen Bereich menschlichen Ordnungssinns gegen die Unbilden der Natur.

Damit markiert die Kultur das Eigene gegen das Fremde, den Schutzraum gegen die Bedrohung. Kultur, selbst in ihren einfachen Ursprüngen, ist daher immer mehr als ein wenig Ackerland und ein paar Hütten drum herum. Kultur hat utopisches Potential, indem ihr immer ein visionärer Überschuss implantiert ist. Sie ist Heimat im realen und Heimat im verklärten Sinne, Ort faktischen Lebens und Sehnsuchtsziel. Zugleich ist Kultur latent bedroht: durch die Natur, durch das Unberechenbare. Und zu diesem bedrohlichen Chaos gehört das Unbekannte, das Andere, das Überraschungen bergen kann. Deshalb ist Kultur permanent zu schützen, zu bewahren und zu erkämpfen. Ohne einen entschlossenen Willen zur Kultur wird Kultur untergehen. Dann wird die Natur das Geordnete und Aufgeräumte