Erster Arbeitstag
Im Großraum Hamburg wohnten gut fünf Millionen Menschen – und alle wussten, wer Konrad Kaltenbacher, der Bettenkönig der Stadt, war.
In Halstaholm, hundert Kilometer südwestlich von Stockholm, wohnten achttausendzweihundertacht. Die wenigsten von ihnen hatten je von Julia Bäck gehört.
Oder, etwas netter ausgedrückt: Halstaholm war nicht viel größer, als dass hier jeder jeden ein bisschen kannte. Aber dass die neunundzwanzigjährige Julia soeben den Posten der Bürgermeisterin der sterbenden Kleinstadt übernommen hatte, das hatte bloß in der Lokalzeitung gestanden, und deren Abo konnte sich allmählich sowieso kaum einer mehr leisten.
Es war also kein Wunder, dass der ältere Herr, der mit seinem Hund Gassi ging, Julia nur einen desinteressierten Blick zuwarf, als sie mit Aktenkoffer in der Hand an ihm vorbeiging.
»Guten Morgen«, sagte sie fröhlich.
»Morgen, das schon«, sagte der Hundebesitzer. »Aber was an diesem Morgen gut sein soll, das weiß ich auch nicht.«
Einer von den vielen Arbeitslosen und dann früher oder später Frühverrenteten, dachte Julia. Na, immerhin wohnte er im Gegensatz zu so vielen anderen immer noch hier. Bestenfalls zahlte er außerdem Hundesteuer. Kleinvieh macht schließlich auch Mist!
Die frischgebackene Bürgermeisterin kam an der einzigen Ladenzeile entlang der Hauptstraße des Städtchens vorbei. Die Hälfte der Geschäfte noch zu, weil es früh am Morgen war. Die andere Hälfte endgültig geschlossen: Halsta Bild& Ton, Halsta Buchhandlung, Wanjas Reformhaus …
Julia überlegte kurz, wohin es Wanja nach der Geschäftsaufgabe wohl verschlagen hatte? Bestimmt nach Stockholm, wie üblich.
Ihr Ziel, das Rathaus, war nebenbei erwähnt ein schlechter Scherz, genau wie alles andere. Die Empfangsdame – in Personalunion eigentlich auch Mädchen für alles – Harriet Ljungberg war als Einzige übrig geblieben. Und natürlich die Bürgermeisterin. Dazu die Amateurpolitiker*innen im Gemeinderat, der einmal im Monat tagte. Einundzwanzig Mitglieder. Achtzehn matte und resignierte Gestalten, eine senile Neunzigjährige, von der keiner mehr wusste, unter welchen Umständen sie an ihr Amt gelangt war und warum sie es immer noch innehielt, und der unvermeidliche Protestpolitiker, der nur herummeckerte und Unmögliches verlangte. Und am Kopfende des Tisches jetzt Julia Bäck, den Hammer der Vorsitzenden in der Hand.
Die neue Bürgermeisterin musste sich an ihrem ersten Tag im neuen Job selbst reinlassen. Super-Harriet war noch nicht am Platz. Warum auch, es war schließlich noch eine Stunde bis Dienstbeginn.
Julia schritt am Empfang vorbei durch die Glastüren und nahm die Treppe in den ersten Stock. Während sie ihren leeren Schreibtisch ansteuerte, fiel ihr das Schild an der Bürotür ins Auge:
Torsten Blomqvist
Bürgermeister
Ihr Parteigenosse Torsten konnte sich von nun an ganztags dem Angelsport widmen. Beim Gedanken an ihn musste Julia lächeln. Wie der sich für das Wohl der Kommune eingesetzt hatte! Fünfundzwanzig lange Jahre am Stück! Die ersten zehn waren der reinste Siegeszug gewesen. Die Stadt wuchs, Leute zogen zu, alle glaubten an die Zukunft.
Bis sich die ersten Anzeichen bemerkbar machten, dass die Reifenfabrik in Schieflage geriet.Halstadäck hatte ja Konkurrenz bis zum Abwinken. Michelin, Goodyear, Nokian …
Torsten hatte den Ernst der Lage begriffen. Und sich aus Leibeskräften dafür starkgemacht, dass die Stadt einen Mammutkredit aufnahm. Die Reifenfabrik mit ihren ganzen zweiundsiebzigtausend Quadratmetern Firmengelände wurde in Topzustand gesetzt, der es dem Unternehmen ermöglichen sollte, sich aus der Krise zu stemmen.
Wenn es da mal bloß nicht zu spät gewesen wäre.
Elf Jahre war das jetzt her. Fünfhundertfünfzig Halstaholmern war fristlos gekündigt worden. Torsten und die Stadt blieben auf einem der größten und modernsten Betriebsgelände Schwedens sitzen. Leer wie ein Nistkasten im Dezember.
Während sich die Umzugswagen von Halstaholm weg anstatt in die richtige Richtung auf den Weg machten, versuchte Julias Vorgänger, einen neuen Mieter zu finden. Hunderttausend Kronen Monatsmiete konnten ja auch reichen. Oder fünfzig. Oder fünfundzwanzig.
Während der letzten beiden Jahre von Torstens Zeit auf dem Bürgermeisterstuhl, auf dem Julia soeben Platz genommen hatte, war der Preis auf eine Krone im Monat gesunken. Mit anderen Wo