JESS
Smithsonian Museum Support Center, Maryland
2019
Jess war sieben gewesen, als sie den Hund ausgebuddelt hatte. Damals war er ein Jahr tot. Sie und ihre Mum hatten ihn mit einer kleinen Trauerfeier unter dem blühenden roten Eukalyptus im Garten begraben, und sie hatten beide geweint.
Ihre Mutter hätte am liebsten wieder geweint, als Jess sie für die Knochen, die sie gerade exhumiert hatte, um mehrere große Tupperdosen bat. Im Allgemeinen hätte Jess’ Mutter ihrer Tochter sogar erlaubt, das Haus in Brand zu setzen, solange sie dabei etwas über das Verhältnis zwischen Kohlendioxid und Sauerstoff lernen konnte. Doch in diesem Fall spielte Angst eine Rolle: War das Ausgraben eines verstorbenen Haustieres und das Zerteilen seines Körpers ein Zeichen dafür, dass die Kleine psychopathische Neigungen hatte?
Jess tat ihr Bestes, um ihrer Mutter klarzumachen, dass sie Milo ausbuddeln wollte,weil sie ihn liebte und weil sie deshalb sehen musste, in welchem Zustand sein Skelett war. Schön würde es aussehen, das wusste sie: der Schwung des Brustkorbs, die Rundung der Augenhöhlen …
Jess liebte die Innenarchitektur von Lebewesen. Rippen, ihr schützender Radius, und wie sie empfindliche Organe ein ganzes Leben lang mit ihrer Umarmung behüteten. Oder Augenhöhlen: Kein Handwerker hatte jemals ein eleganteres Behältnis für ein so kostbares Objekt wie das Auge erschaffen. Milos Augen hatten die Farbe von Rauchquarz gehabt. Wenn Jess mit dem Finger über die kleinen Einbuchtungen rechts und links seines zarten Schädels fuhr, konnte sie seine Augen wieder sehen: den liebevollen Blick ihres allerersten Freundes, der es nicht erwarten konnte, mit ihr zu spielen.
Sie war in einer der belebten Straßen von Sydney mit Bungalows aus rötlichem Backstein aufgewachsen, die sich beim ersten Wachstumsschub der Stadt im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts nach Westen ausgedehnt hatten. Hätte sie irgendwo auf dem Land gelebt, so hätte ihre Faszination vermutlich überfahrenen Kängurus, Wombats oder Wallabys gegolten. Doch als Großstadtkind aus Sydney freute sie sich schon über eine tote Maus oder vielleicht einen Vogel, der gegen ein Glasfenster geflogen war. Bislang war ihr bestes Versuchstier ein Flughund gewesen, der einen Stromschlag erlitten hatte und verendet war. Sie hatte ihn auf dem bewachsenen Streifen unter der Starkstromleitung gefunden und eine ganze Woche damit verbracht, ihn auseinanderzunehmen: die papierartige Membran seines Flügels, die sich vor ihr auffächerte wie der gefaltete Balg eines Akkordeons. Die Mittelfußknochen, wie menschliche Knochen, nur leichter – Knochen, die nicht zum Greifen und Halten gedacht waren, sondern um sich durch die Luft zu schwingen. Als sie fertig war, hatte sie den Flughund an die Lampenhalterung unter ihrer Schlafzimmerdecke gehängt. Dort, sauber von allem befreit, was verwesen konnte, sah sie ihn, wie er für immer durch endlose Nächte flog.
Im Laufe der Zeit war ihr Zimmer zu einer Art Naturgeschichtemuseum in Miniaturform geworden und hatte sich mit Skeletten von Eidechsen, Mäusen und Vögeln gefüllt, die auf Sockeln aus ausgedienten Garnspulen oder Fadenröllchen steckten und mit sorgfältig in Tinte geschriebenen lateinischen Namen versehen waren. Bei der Schar halbwüchsiger Mädchen, die mit ihr auf die Highschool gingen, machte sie das nicht allzu beliebt. Die meisten ihrer Klassenkameradinnen fanden ihre Besessenheit von nekrotischer Materie abstoßend und unheimlich. Sie wurde zu einem einzelgängerischen Teenager, was vielleicht zu ihrem hervorragenden Abschneiden in drei Fächern bei den bundesstaatlichen Abschlussprüfungen beitrug. Auch während des Studiums tat sie sich hervor und war schließlich mit einem Stipendium nach Washington gekommen, um ihren Master in Zoologie zu machen.
Das war etwas, das Australier gern taten: ein oder zwei Jahre im Ausland studieren, um sich den Rest der Welt anzuschauen. In ihrem ersten Semester hatte das Smithsonian sie als Aushilfskraft angestellt. Als man dort erfuhr, dass sie bereits mit dem Säubern von Knochen vertrau