Kapitel 1
Ende Oktober 1923
Es ist kurz nach sieben. Frieda zieht den Fenstervorhang beiseite und schaut in die morgendliche Dunkelheit hinaus. Drüben im Pfarrhaus brennt Licht, hinter dem Fenster liegt das Studierzimmer von Pfarrer Seybold. Rechts davon, im Hof Grossmann, sind sie noch im Stall zugange, auf den anderen Höfen ist das Vieh um diese Zeit längst gemolken und gefüttert. Die Lichter sind verzerrt, das bedeutet, dass Morgennebel über dem Dorf liegt. Frieda zieht das Nachthemd enger um den Körper und wünscht sich weit fort. Nach Eschnapur in Indien, wo goldgeschmückte Fürstinnen auf Elefanten reiten. Das hat sie im Kino gesehen. Oder wenigstens nach Frankfurt, wo das richtige Leben stattfindet.
Dingelbach ist schrecklich öde.
»Bist du immer noch nicht aus den Federn?«, schimpft hinter ihr die ältere Schwester Herta. »Willst du schon wieder zu spät zur Schule kommen?«
Sie meint nicht Frieda, sondern die dreizehnjährige Ida, deren rötlicher Haarschopf zwischen Kissen und Federbett vergraben ist. Ida ist das Nesthäkchen, sie ist aufsässig und altklug; sie tut nur, was sie will, von der braven Herta lässt sie sich nichts sagen. Als Herta ihr das Federbett wegziehen will, klammert sie sich daran fest und kreischt dann, weil Herta bei diesem Kräftemessen schließlich die Gewinnerin ist.
»Los, aufstehen! Wasch dich anständig. Frieda macht dir die Zöpfe.«
Herta zieht den Nachttopf unter dem Bett hervor und geht damit die Stiege herunter, um ihn draußen im Häuschen auszuleeren. Ida hockt immer noch in ihrem Bett, das lange Nachthemd über die angewinkelten Knie gezogen, die dicken Zöpfe sind mal wieder vollkommen verfilzt. Frieda wendet sich vom Fenster ab und zieht die Gardine wieder vor, dann gießt sie Waschwasser aus der Kanne in die Emailleschüssel.
»Du warst gestern an meinen Sachen!«, sagt sie ärgerlich zu Ida.
Ida antwortet nicht. Sie steigt umständlich aus dem Bett, tunkt den Waschlappen ein und wischt sich über ihr Gesicht. Das Wasser ist kalt, aber sie sind zu faul, hinunter in die Küche zu gehen, um sich eine Kanne warmes Wasser zu holen.
»Du hast Blätter aus meinem Heft gerissen!«
In der Schlafkammer gibt es drei Betten. Jedes Mädchen besitzt einen Nachttisch, darin verwahren sie ihre wenigen Besitztümer. Der Schrank wird gemeinschaftlich genutzt, daneben steht der Waschtisch mit der großen Emailleschüssel. Für weitere Möbelstücke ist es zu eng, es ist so schon schwierig, am Schrank vorbei zu Idas Bett zu gelangen, weil Schuhe, Schultasche, Socken und allerlei andere Dinge auf dem Fußboden herumliegen.
»Das war nur geliehen«, gibt Ida unwillig zu. »Mama muss mir heute neue Schreibhefte geben, dann kriegst du eins.«
Frieda ist trotzdem zornig. Ida ist eine diebische Elster, nichts ist vor ihr sicher.
»Papierschiffchen auf dem Bach schwimmen lassen«, sagt sie und rollt mit den Augen. »Für so’n Quatsch das teure Schreibpapier!«
Die Mädchen haben beide die Nachthemden abgestreift und waschen sich mit dem eingeseiften Lappen. Vor allem »untenherum«, das hat die Mutter ihnen so beigebracht. Da muss man sauber sein, das ist wichtiger, als das Gesicht zu waschen. Zuletzt sind die Füße dran, dann kippt Frieda das Waschwasser in den Eimer.
»Wir haben eine Regatta gemacht«, erklärt Ida mit wichtiger Miene. »Mein Schiff hat gewonnen.«
»Glückwunsch!«, versetzt Frieda böse. »Wegen dir kann ich mein Theaterstück nicht fertigschreiben!«
»Schreib es doch auf Klopapier!«
Frieda zeigt der kleinen Schwester einen Vogel, dann hakt sie den von der Mutter geerbten Büstenhalter zu,