1934
Paul wusste, dass er sich beeilen musste. Für elf Uhr war der Termin vor dem Schiedsgericht anberaumt, und vorher musste er sich noch in den Fall einlesen. Den Vormittag hatte er sich mit Mühe freigeschaufelt und hastete jetzt von der Schrammer- in die Maffeistraße. Nie konnte er an dem Haus, in dem jetzt die Vereinsbank residierte, vorbeigehen, ohne an der Fassade hinaufzuschauen und das Fenster im zweiten Stock zu suchen, hinter dem sich früher sein erstes Kinderzimmer befunden hatte. Im Erdgeschoss war das erste Lebensmittelgeschäft seiner Eltern gewesen. Paul versuchte, sich seinen Vater in der langen dunklen Schürze vorzustellen. Das Bild verblasste jedoch langsam, und der Vater in seiner Erinnerung ähnelte immer mehr dem auf dem Foto, das im Blauen Salon, der guten Stube in der Dienerstraße, hing. Es war einige Jahre vor seinem Tod aufgenommen worden. Damals trug er einen dunklen Vollbart, sein Haar war schon etwas schütter, und er lächelte ganz fein. Irgendwann würde es gar kein anderes Bild seines Vaters mehr geben. Dagegen waren die Erinnerungen an seine Mutter noch frischer, auch wenn sie ebenfalls ihren Platz an Antons Seite im Blauen Salon eingenommen hatte.
Paul kam am Hotel Bayerischer Hof vorbei, überquerte den Promenadeplatz und dann den Maximiliansplatz und lief auf das schmucke und repräsentative Gebäude der Industrie- und Handelskammer zu. Mehr als eine Million Reichsmark hatte die Kammer für den Gebäudekomplex an der Max-Joseph-Straße bezahlt. Der Architekt Gabriel von Seidl hatte ihn gebaut, nicht für dieIHK, sondern als privates Wohn- und Geschäftshaus für den jüdischen Antiquitätenhändler Arnold Drey. Jetzt tagte hier das freiwillige Schiedsgericht derIHK. Seit den Zwanzigerjahren hatte Paul der Tarifkommission des bayerischen Einzelhandels angehört, und bis heute war er Mitglied des Schiedsgerichts. Fragte sich nur, wie lange noch. Bei dem Termin, der für heute anberaumt war, ging es um den Zuckerbäcker Josef Leiminger aus Riem im Münchner Osten. Ihm war als Lieferant für die Wiesn gekündigt worden, weil er, so seine Annahme, kein Parteimitglied war. Daraufhin hatte der Mann sich an das Schiedsgericht gewandt.
Paul kam am Sitzungssaal vorbei und sah auf die Liste der vermerkten Termine, fand aber keinen Eintrag unter dem Namen Leiminger. Für elf Uhr war überhaupt keine Sitzung eingetragen. Hatte man den Termin verlegt und vergessen, ihm Bescheid zu sagen? Er folgte einem Seitengang bis zum Zimmer 06 und klopfte bei seinen Freund Egon Koller, den er schon seit ewigen Zeiten kannte. Von Koller, dem immer schon sehr mageren, schlaksig wirkenden Mann mit dem schütter werdenden mausbraunen Haar, erfuhr er, dass die Klage des Bäckers abgewiesen worden war.
»Der Mann hat keine Möglichkeit mehr für einen Einspruch«, erklärte ihm sein Freund Koller mit gedämpfter Stimme. »Solche politischen Verfahren werden jetzt praktisch nicht mehr verhandelt.«
»Ach so?«, fragte Paul. »Wurde das irgendwo so entschieden?«
»Entschieden und uns als Weisung mitgeteilt.« Egon Koller sah immer wieder unauffällig zur Tür.
»Was ist denn mit dir, Egon?«, fragte Paul. »Du wirkst so gehetzt.«
»Ich weiß nicht, wie lange ich mich hier noch halten kann, Paul. Irgendwann werden sie mich gegen einen Linientreuen austauschen.«
»Außer du besorgst dir das richtige Parteibuch«, bemerkte Paul.
»Das könntest du genauso machen«, antwortete Egon.
»Ich? Ich bin doch ein freier Kaufmann«, sagte Paul.
»Das ist der Bäcker Leiminger auch. Aber wenn er seine Brezen und Semmeln nicht mehr verkaufen darf, dann nützt ihm das nichts.«
»Er darf sie ja noch verkaufen«, wandte Paul ein. »Nur auf der Wiesn nicht.«
»Das ist aber sein Hauptgeschäft, schon in der