: Remo H. Largo
: Kinderjahre Die Individualität des Kindes als erzieherische Herausforderung
: Piper Verlag
: 9783492990561
: 1
: CHF 14.50
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: Familie
: German
: 464
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Was ist Erziehung? Kinderarzt Remo H. Largo, Autor des Bestsellers »Babyjahre«, bietet Einsichten in die kindliche Entwicklung vom Kleinkindalter bis an die Schwelle des Erwachsenseins. Dabei berührt er fundamentale Fragen über Veranlagung und Umwelt, die kindlichen Grundbedürfnisse und Fähigkeiten, die Bedeutung von Reifung und selbstbestimmten Erfahrungen: - Wie entsteht die Individualität des Kindes? - Wie bilden sich tragfähige Beziehungen? - Wie werden Kinder zu selbstbewußten und glücklichen Erwachsenen? Wie finden sie ihr passendes Leben? - Was können Eltern zur Entwicklung ihres Kindes beitragen?'Kinderjahre' bietet praktische Hilfestellung, wie Sie die speziellen Talente und Veranlagungen Ihres Kindes am besten fördern In klarer und verständlicher Sprache macht Remo H. Largo anhand vieler Beispiele deutlich: Erziehen bedeutet, das Kind in seiner Entwicklung so zu unterstützen, dass es zu dem Wesen werden kann, das in ihm angelegt ist. Der Bestseller des bekannten Entwicklungsforschers in vollständig überarbeiteter und aktualisierter Neuausgabe.

Remo H. Largo, geboren 1943 in Winterthur, gestorben 2020 in Uetliburg, war bis zu seiner Emeritierung 2005 Professor für Kinderheilkunde. Fast drei Jahrzehnte lang leitete er die Abteilung für Wachstum und Entwicklung am Kinderspital in Zürich, wo er die bedeutendste Langzeitstudie über kindliche Entwicklung im deutschsprachigen Raum durchführte. Er war Vater dreier Töchter und Großvater von neun Enkeln. Seine Bücher »Babyjahre«, »Kinderjahre«, »Schülerjahre« und »Jugendjahre« (mit Monika Czernin) sind Klassiker, ebenso wie »Glückliche Scheidungskinder«.

Einleitung


Der 11-jährige Ben setzt sich verunsichert auf seinen Platz. Die Lehrerin hat ihn bei der Begrüßung kaum angeschaut und nur flüchtig Guten Morgen gesagt. Ben grübelt: Warum ist die Lehrerin bloß unzufrieden mit mir? Ist meine Mathearbeit schlecht ausgefallen?

Als die Lehrerin Bens Verunsicherung und auch die der anderen Kinder bemerkt, erklärt sie der Klasse, dass sie müde und besorgt ist, weil ihr Kind in der vergangenen Nacht krank wurde und sie es ins Krankenhaus bringen musste. Dann teilt die Lehrerin die Mathearbeit aus. Ben ist Zweitbester. Er ist sehr zufrieden. Er spürt auch die Anerkennung von der Lehrerin und den anderen Kindern; manche schauen sogar ein bisschen neidisch zu ihm herüber.

 

Menschen jeden Alters wollen sich angenommen fühlen. Wie Ben reagiert auch ein gestandener Bankbeamter auf ein distanziertes Verhalten seines Vorgesetzten. Besonders Kinder aber brauchen für ihr Wohlbefinden ein Gefühl von Angenommensein. Ihr Selbstwertgefühl hängt wesentlich davon ab, ob sie die notwendige Anerkennung von den Erwachsenen und den anderen Kindern bekommen. Schließlich wollen sie mit ihren Leistungen sich selbst und den Erwartungen anderer wie der Lehrerin genügen können. Wohlbefinden, Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeit machen Kinder stark. Sie geben ihnen das Gefühl, ein gutes Leben zu führen, sich selbst zu mögen und ihren Alltag im Griff zu haben.

Wie sich ein Kind fühlt, etwa wenn es in der Schule überfordert wird, bestimmt sein Verhalten – und oft, wie erfolgreich es ist. Ist es in seinem Wohlbefinden beeinträchtigt und verfügt über ein geringes Selbstwertgefühl, schwächt das seine Beziehungsfähigkeit. Seine Lernmotivation und sein Leistungsvermögen werden durch die innere Unsicherheit ebenfalls herabgesetzt. Kinder können ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie ihr Wissen nur ungenügend einsetzen, wenn sie sich unwohl fühlen und verunsichert sind. Schlimmstenfalls leiden ihr Wohlbefinden, Selbstwertgefühl und ihre Selbstwirksamkeit derart, dass sie überzeugt sind: Mich mag niemand, ich kann nichts, ich bin nichts wert. Eine solch tiefe emotionale Verunsicherung erleben Kinder als Stress, der zu psychosomatischen Beschwerden wie Kopfschmerzen oder Verdauungsstörungen führen kann.

Ein Kind fühlt sich dann wohl, wenn es seine körperlichen und psychischen Bedürfnisse befriedigen und seine Fähigkeiten entfalten kann. Dafür sollte es möglichst in Übereinstimmung mit seiner Umwelt leben dürfen. Wenn wir es als Eltern, Erzieherinnen und Lehrer darin ausreichend unterstützen, wird aus dem Kind ein junger Erwachsener mit einer positiven Grundstimmung, einem guten Selbstwertgefühl und einer guten Selbstwirksamkeit. Dies zu gewährleisten ist das Hauptanliegen des Fit-Prinzips.

Die nachfolgende kurze Übersicht über die verschiedenen Kapitel des Buches soll der Leserin und dem Leser aufzeigen, von welch großer Bedeutung so unterschiedliche Themen wie Vielfalt der Grundbedürfnisse und Fähigkeiten, das Zusammenwirken von Anlage und Umwelt und die Gesetzmäßigkeiten der kindlichen Entwicklung für das Verständnis des Fit-Prinzips sind, aber auch von Misfit-Konstellationen, einer fehlenden Übereinstimmung zwischen Kind und Umwelt.

Das Normale an der kindlichen Entwicklung ist Vielfalt


Wären alle Kinder gleich, wäre Erziehung nicht gerade ein Kinderspiel, aber doch sehr viel einfacher. Wenn gleichaltrige Kinder gleich viel essen würden, im selben Alter zu sprechen anfingen und in der Schule gleich gut lesen könnten, gäbe es weit weniger Erziehungsprobleme. Was den ganzen Mehraufwand jedoch bei Weitem aufwiegt und Kinder so kostbar macht: Jedes Kind ist als Person und in seinem Werdegang einzigartig.

Kinder sind bereits bei der Geburt sehr verschieden und werden es im Verlauf ihrer Entwicklung immer mehr. So gibt es unter gleichaltrigen Kindern solche, die doppelt so viel essen wie andere. Während das eine Kind mit 12 Monaten die ersten Wörter spricht, ist ein anderes erst mit 30 Monaten so weit. Die meisten Kinder lernen im Alter von etwa 7 Jahren Rechnen. Einige bringen sich das Rechnen bereits mit 4 bis 5 Jahren