: Andreas Winkelmann
: Die Zucht
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644219816
: 1
: CHF 10.00
:
: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 528
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Nach «Blinder Instinkt», «Wassermanns Zorn» und «Deathbook» der neue packende Thriller von Bestsellerautor Andreas Winkelmann. Nur fünf Minuten hat Helga Schwabe ihren Sohn aus den Augen gelassen. Einen unaufmerksamen Moment lang. Und in diesem Moment ist er verschwunden. Als fielen Hauptkommissar Henry Conroy die Ermittlungen in diesem Fall mutmaßlicher Kindesentführung nicht schon schwer genug, muss er sich auch noch mit einer neuen Kollegin herumschlagen. Vorlaut, frech, selbstbestimmt - das ist Manuela Sperling. Aber sie hat einen guten Riecher. Und bald stoßen die beiden auf eine Spur, die zu einem alten Gehöft im Niemandsland an der Grenze zu Tschechien führt, auf dem illegal Hunde gezüchtet werden. Hunde, die Fleisch brauchen, viel Fleisch. Und ihr Züchter besorgt es ihnen, koste es, was es wolle ...

In seiner Kindheit und Jugend verschlang Andreas Winkelmann die unheimlichen Geschichten von John Sinclair und Stephen King. Dabei erwachte in ihm der unbändige Wunsch, selbst zu schreiben und andere Menschen in Angst zu versetzen. Heute zählen seine Thriller zu den härtesten und meistgelesenen im deutschsprachigen Raum. In seinen Büchern gelingt es ihm, seine Leserinnen und Leser von der ersten Zeile an in die Handlung hineinzuziehen, um sie dann, gemeinsam mit seinen Figuren in ein düsteres Labyrinth zu stürzen, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gibt. Die Geschichten sind stets nah an den Lebenswelten seines Publikums angesiedelt und werden in einer klaren, schnörkellosen Sprache erschreckend realistisch erzählt. Der Ort, an dem sie entstehen, könnte ein Schauplatz aus einem seiner Romane sein: der Dachboden eines vierhundert Jahre alten Hauses am Waldesrand in der Nähe von Bremen.

3


Henry Conroy stand unter der mächtigen Kastanie, die Einfahrt und Vorgarten des alten Resthofes beschattete. Rund um den Stamm hatten die Wurzeln das graue Pflaster aufgeworfen. Es sah aus, als würde sich etwas Gewaltiges aus dem Erdreich emporarbeiten. Nur noch eine hauchdünne Schicht hielt es zurück. Aber nicht mehr lange, der Ausbruch stand kurz bevor.

Henry legte den Kopf in den Nacken und sah in die Krone hinauf. Vereinzelt drang Sonnenlicht durch das dichte Laub. Die Blätter waren allesamt braun gefleckt, der Baum wirkte krank. Das alte, backsteinerne Haus wirkte krank. Alles hier wirkte krank, trotz der ländlichen Idylle und des guten Wetters. Hinter der pockennarbigen Fassade bürgerlichen Alltags lauerte dasselbe Virus, das den Rest der Welt befallen hatte.

Was vor kurzem hier geschehen war, bestätigte Henry Conroy nur in seiner Überzeugung, in einer kranken, nicht therapierbaren Welt zu leben. Was er tun konnte, war, hie und da ein Pflaster aufzukleben, mehr nicht. Aber sofort brachen an anderer Stelle neue Wunden auf. Ein Hoch auf die Arschlöcher dieser Welt, die seinen Arbeitsplatz sicherten.

Henry sah zu der schmalen Teerstraße hinüber, die aus der kleinen Ortschaft Hohberg hierherführte und neben dem Haus der Schwabes in einen Feldweg überging. In der Mitte des Feldweges stand eine hohe Grasnarbe. Die Fahrspuren rechts und links davon waren tief, der trockene Sand darin weich und von breiten Traktorreifen zermahlen. Der letzte Regen lag länger als eine Woche zurück. Die Sonne hatte den Boden ausgetrocknet, auf Reifenspuren brauchten sie also nicht zu hoffen.

Die Spurentechniker arbeiteten in zwei Gruppen. Eine kroch auf Knien durch den Garten der Schwabes, die andere suchte unten am Waldrand. Dort, so hatte ihm sein Kollege Jens Jagoda telefonisch berichtet, hatte der Vater Blutspuren gefunden, eventuell sogar Gewebestücke. Und natürlich war er drauf herumgetrampelt, bevor er die Polizei informiert hatte. Auch Henry würde dieser Anblick nicht erspart bleiben, aber vorher wollte er einen Blick auf das Grundstück werfen. Sollten die Jungs von der Spurensicherung die Leiche des Jungen im Wald finden, würde er es früh genug erfahren, seine Anwesenheit dort unten spielte keine entscheidende Rolle. Wichtiger war die Fahndung, die er sofort eingeleitet hatte. Jeder Polizist in diesem Bundesland – und auch im angrenzenden – musste darüber informiert werden, dass ein sechsjähriger Junge vermisste wurde. Sie würden jeden Pkw anhalten, in dem eine einzelne männliche Person saß. Vielleicht hatten sie Glück und fanden jemanden, an dessen Händen oder der Kleidung Blut klebte. Laien meinten immer, der Abschaum der Gesellschaft sei besonders intelligent, aber das stimmte nicht. Die meisten Straftäter waren saublöd.

Den Blutspuren nach zu urteilen, konnten sie dem Jungen nicht mehr helfen. Aber die Jagd nach dem Täter, die konnten sie noch gewinnen. Leider hatten die Schwabes eine halbe Stunde verstreichen lassen, ehe sie die Polizei gerufen hatten. Verständlich, jeder suchte erst einmal selbst nach seinem Kind. Für die Fahndung war es allerdings schlecht. In einer halben Stunde konnte man weit kommen. In etwas mehr als der doppelten Zeit ließ sich problemlos die Grenze nach Tschechien erreichen.

Henrys Magen grummelte und kniff. Er hatte wenig gegessen, aber daran lag es nicht allein. Es war dieser Fall. Er wollte ihn nicht, und sein Körper sträubte sich dagegen. Da er aber bereits seit drei Tagen nichts weiter getan hatte, als die Ablage zu bearbeiten, hatte der stellvertretende Polizeichef Nikolaus Sackstedt ihn eingeteilt. Natürlich. Henry dachte darüber nach, sich morgen krankzumelden und Jens Jagoda den Kram aufzubürden. Nur um Sackstedt eins auszuwischen.

Morgen. Vielleicht. Aber jetzt musste er ran. Und er durfte keine Fehler machen.

Henry fol