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Sie erinnerte sich genau an Docteur Lambarts letzte Worte.Tout va bien hatte er gesagt, alles wird gut. Dann wurde sie in den Operationssaal geschoben …
Damals konnte sie nicht sicher davon ausgehen, dass sich die optimistische Annahme des Arztes bestätigen würde. Bei einem chirurgischen Eingriff an der Wirbelsäule, bei dem es darum ging, einen Bombensplitter zu entfernen, waren Zweifel angebracht.
Tout va bien? Isabelle saß unter Platanen in einem Liegestuhl und lächelte versonnen vor sich hin. Der Arzt hatte recht behalten, alles war gut verlaufen. Sein Glück, denn sonst hätte sie ihm eine Kugel in den Kopf gejagt. Na ja, nicht wirklich. Aber aus dem versprochenen Tanz, den er als Prämie für ihre Wiederherstellung eingefordert hatte, wäre nichts geworden. Jetzt hatte er ein Tänzchen gut. Es hatte keine Eile damit – aber sie würde ihr Versprechen halten. Das war sie ihm schuldig.
Und jetzt? Jetzt entspannte sie sich auf einer grün umrankten Terrasse bei Saint-Rémy in den provenzalischen Alpilles – und hatte in den letzten vier Wochen nichts Besseres zu tun gehabt, als wieder fit zu werden. Sie hatte sich für einen Reha-Aufenthalt in einerClinique de réhabilitation entschieden. Das war ihr nicht leichtgefallen, denn eigentlich mochte sie solche Kliniken nicht. Sie umgab sich ungern mit Menschen, die alle auf irgendeine Weise lädiert waren. So was schlug schon unter normalen Umständen aufs Gemüt. Erst recht, wenn es einem selber nicht so toll ging.
Aber sie hatte sich überreden lassen. Und im Rückblick war es genau die richtige Entscheidung gewesen. Zu Beginn ihrer Rehabilitation war sie noch an Krücken gegangen. Heute konnte sie auf der Treppe zum Salle à manger wieder zwei Stufen auf einmal nehmen. Wo sich der Lift befand, hatte sie schon fast vergessen.
Warum lag sie dann gerade stinkefaul im Liegestuhl? Weil das Reha-Programm beendet war? Weil keine Übungen oder Anwendungen mehr anstanden und sie morgen entlassen wurde? Das war kein hinreichender Grund, träge vor sich hin zu dösen.
Auf Isabelles Schoß lag eine Broschüre, die sie sich an der Rezeption geholt hatte. In ihr wurden die Schönheiten von Saint-Rémy gepriesen, so die charmante Altstadt mit den vielen Boutiquen, Cafés und Galerien. Auch gebe es Museen, die man sich unbedingt anschauen sollte. Zum Beispiel das Musée des Alpilles oder das Musée Estrine. Natürlich hatte sie keines besucht und auch sonst nicht viel gesehen, denn der straffe Tagesablauf in derClinique de réhabilitation ließ für solche Extratouren kaum Zeit.
Sie hatte vom Monastère Saint-Paul-de-Mausole gelesen. Dort war Vincent van Gogh ein Jahr in der Nervenheilanstalt untergebracht, nachdem er sich im Absinth-Rausch einen Teil seines linken Ohres abgeschnitten hatte. Isabelle lächelte. Sie war Kriminalkommissarin und von Natur aus misstrauisch. Nach ihrer Theorie hatte sich van Gogh nicht selbst verstümmelt, vielmehr wurde ihm sein Ohr im Streit von seinem Freund Paul Gauguin abgetrennt. Van Gogh hatte sich danach stark blutend in ein Bordell gerettet, wo er verarztet wurde. Für diesen Tathergang gab es einige Indizien. Leider war dieser Fall, gut hundertdreißig Jahre später, nicht mehr aufzuklären. Schade, die Aufgabe hätte sie gereizt.
Wie auch immer, Saint-Rémy hatte van Gogh zu großartigen Bildern inspiriert. Zum Beispiel hatte er den ummauerten »Irrenhausgarten« gemalt. Eine Kopie hing in ihrem Krankenzimmer. Wie man gerade dieses trübsinnige Bild für eine Rehaklinik auswählen konnte, war ihr ein Rätsel. In der Mitte stand eine mächtige Pinie, der ein Teil abgesägt war. Sozusagen zwangsamputiert. Keine gute Symbolik.
Der Kontrast zum Garten ihrer Rehaklinik könnte nicht größer sein. Isabelle sah sich um. Ein gepflegter Rasen, akkurat geschnittene Hecken. Platanen, Palmen, Orangenbäume und Magnolien. Ein Teich und ein sanft plätschernder Wasserfall. Eine Idylle. Friedlich und beschaulich. Aber nicht ihr Ding. Sie fand wildromantische Gärten viel schöner. Urwüchsig und naturbelassen. Gerne auch ein wenig verwildert. Halt wie das richtige Leben. Da war auch nicht alles vollkommen und frei von jedem Makel. Nein, wirklich nicht.
Isabelle überlegte, dass sie die nächsten Stunden zu ihrer freien Verfügung hatte. Zumindest van Gogh könnte sie zum Abschied ihre Reverenz erweisen. In der Broschüre stand, dass es zwischen dem Monastère und dem historischen Zentrum von Saint-Rémy einePromenade dans l’univers van Gogh gab. Entlang dieses Weges habe der Maler viele seiner Motive gefunden. Diese seien auf insgesamt neunzehn Schautafeln abgebildet. Isabelle gab sich einen Ruck und stand auf. Schluss mit der