: Berni Mayer
: Anleitung zum Traurigsein Wie ich gelernt habe, mit der Trauer zu leben
: DuMont Buchverlag
: 9783832160852
: 1
: CHF 17.90
:
: Lebensführung, Persönliche Entwicklung
: German
: 224
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»Wie ich lernte, mit dem Verlust zu leben - und ein anderer wurde.« Als Berni Mayers Tochter Olivia an einem Gehirntumor stirbt, ist der Schmerz allumfassend. Das Gefühl der Trauer sickert in alle Bereiche seines Lebens. Wie kann man mit einem derartigen Verlust leben? Der Autor schildert hier seine Odyssee durch die Trauer, mit der er am Ende eine Art Waffenstillstand schließt, um weiterleben zu können. Er zeigt, was ihm geholfen hat und was nicht. So erfahren die Leser:innen, dass man Trauer auch mal wegtanzen kann, Ernährung oder Fitnesstraining unterstützend wirken und wie Therapien und manchmal auch Psychopharmaka helfen können. Und Berni Mayer erlebt, wie wichtig Selbstwirksamkeit ist und welchen Anteil Meditation und buddhistische Philosophie am inneren Frieden haben.>Anleitung zum Traurigsein< veranschaulicht, dass und wie man lernen kann, konstruktiv mit Verlusten umzugehen. Es bietet eine Art Blaupause fürs Trauern.

BERNI MAYER, geboren 1974 in Bayern, studierte Germanistik und Anglistik und arbeitet heute als Autor, Journalist, Übersetzer und Podcast-Produzent in Berlin. Bei DuMont sind seine Romane>Rosalie< (2016),>Ein gemachter Mann< (2019) und>Das vorläufige Ende der Zeit< (2023) erschienen.

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Luxustrauer

Ich wäre gerne viel öfter traurig.

Ich meine die Traurigkeit, wie man sie auch aus der Populärkultur kennt. Aus Filmen, Serien und Büchern. Bei der jemand verzweifelt alles aus sich rausheult. Bei der es jemanden grässlich sticht in der Herzgegend. Bei der man sofort begreift: Dieser Mensch ist traurig, und man weiß auch, warum.

Eine situative, komprimierte Traurigkeit mit konkretem Anlass – so eine Traurigkeit würde ich gerne öfter empfinden.

Ich würde gerne öfter eine Stunde lang auf meiner Couch vor mich hin weinen und vielleicht dabei melancholische Popsongs wie »Funeral« von Phoebe Bridgers oder »This Life« von Vampire Weekend hören. Oder auch nachts im Bett liegen, über den Verlust unserer Tochter nachdenken und irgendwann unter Tränen einschlafen. Und doch gelingt mir das höchstens zweimal im Jahr.

Für mich ist eine zielgerichtete und zeitlich begrenzte Trauer ein seltener Glücksfall. Ein Erfolg meiner Trauerarbeit. Dann ist meine Trauer isoliert, dann habe ich sie im Griff. Dann liefert sie eine unmittelbare Katharsis und endet in erlösender Erschöpfung. Und dann geht es mir für kurze Zeit tatsächlich besser.

Das ist die Luxustrauer. Das ist nicht die Trauer, die mir im Alltag zu schaffen macht. Die mich lähmt und belastet. Die ich überwinden muss, um in Kontakt mit meinem Sohn, meiner restlichen Familie, meinem Umfeld und mir selbst zu bleiben. Die Luxustrauer ist eine willkommene Auszeit. Während sie anhält, muss ich nichts machen, ich kann einfach nur traurig sein. Die alltägliche Trauer ist tückischer, auf keinen Moment festlegbar, sie schleicht sich in alle Vorgänge und Gedanken. Um sie geht es in diesem Buch.

Mit dieser Trauer muss ich die meiste Zeit leben. Oft erkenne ich sie nicht mal auf den ersten Blick als Trauer. Sie erschöpft mich und höhlt mich wie eine chronische Erkältung aus. Sie tritt als Angespanntheit und Wut in Erscheinung, als scheinbar grundloser Frust und Defätismus. Als Müdigkeit, die sich bemerkbar macht, wenn ich mit meinem Sohn für die Klassenarbeit Bruchrechnen lerne und ungehalten auf seine falschen Antworten reagiere oder existenziell mit meiner Freundin streite, selbst wenn es dabei nur um die Konsistenz von Porridge geht. Wenn ich Fahrradfahrer anschreie, die mir die Vorfahrt nehmen. Wenn ich manchmal mitten am Tag erschöpft auf der Couch einschlafe, obwohl ich eigentlich früh im Bett war. Wenn mir Konflikte buchstäblich auf den Magen schlagen und womöglich den kleinen Riss in meiner Speiseröhre verschlimmern. Wenn mein Zahnfleisch auch mit der neuen Krone nicht aufhört zu schmerzen. Wenn ich in Stresssituationen plötzlich dieses Pfeifen im Ohr habe.

Das ist die Art von Trauer, die ich gerne wieder loswerden will. Die ich unbeschadet überstehen will, auch wenn es dafür vermutlich zu spät ist.

Der argentinische Autor und Psychiater Jorge Bucay schreibt in seinemBuch der Trauer:

Ich habe den Eindruck, das Geheimnis, mit unseren Verlusten zurechtzukommen, besteht genau darin, dass wir uns dazu durchringen, die Trauer auszuhalten, sie als Teil des Weges zu verstehen (…).1

In diesem Buch möchte ich beschreiben, was ich unternommen habe, um die Auswirkungen von Trauer auf mein Leben zu erfassen und in Schach zu halten. Doch ein Teil dieses Wegs besteht nach wie vor im geduldigen Aushalten eines Zustands. Oder um es weniger passiv zu formulieren: im Beobachten, wie sich dieser Zustand langsam verändert. Manchmal über Jahre hinweg.

Bucay schreibt auch, Trauer sei keine Krankheit, sondern »ein Prozess, der zur Überwindung ein