: Peter Härtling
: Grosse, kleine Schwester Roman
: Verlag Kiepenheuer& Witsch GmbH
: 9783462300840
: 1
: CHF 9.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 352
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Lea und Ruth sind Schwestern. Sie stammen aus einem Ort, der einmal Brünn hieß und in dem Deutsche und Tschechen, Juden und Christen zusammenlebten. Der Faschismus und die Folgen haben dieses Leben zerstört und Lea und Ruth aus ihrer bürgerlichen Welt gerissen, in der sie unterschiedliche Wege gehen wollten. In einer von den Umständen aufgenötigten komisch- melancholischen Symbiose haben sie ihr ganzes Leben miteinander verbracht, wurden gemeinsam von Brünn nach Schwaben verschlagen, am Ende sind sie fast eins. Peter Härtling erzählt das Leben der beiden ungleichen Schwestern und wie die Zeitgeschichte dieses Leben prägte in doppelter Perspektive und gebrochener Chronologie, in der Vergangenheit und in der Gegenwart, voll Witz, Einfühlungsvermögen und Raffinesse. Welche verschiedenen Wege die Liebe geht und wie Privates und Politisches sich kreuzen und verschlingen, das kann niemand besser erzählen als Peter Härtling, dem mit Lea und Ruth zwei wunderbare Frauenportraits gelungen sind.Die Geschichte von Lea und Ruth, zweier Schwestern aus Brünn, die durch die Zeitläufe zu einer lebenslangen Symbiose genötigt werden. Am Ende verschmelzen sie fast zu einer Person. Ein Zeitroman über zwei Frauen, voller Einfühlungsvermögen und Raffinesse.

Peter Härtling, geboren 1933 in Chemnitz, gestorben 2017 in Rüsselsheim, arbeitete zunächst als Redakteur bei Zeitungen und Zeitschriften. 1967 wurde er Cheflektor des S. Fischer Verlages in Frankfurt am Main und war dort von 1968 bis 1973 Sprecher der Geschäftsführung. Ab 1974 arbeitete er als freier Schriftsteller. Peter Härtling wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Hessischen Kulturpreis 2014 und dem Elisabeth-Langgässer-Preis 2015. Das gesamte literarische Werk des Autors ist lieferbar im Verlag Kiepenheuer& Witsch, zuletzt erschien sein Roman »Gedankenspieler« (2018).

Die Maus


Im Sommer steht die hohe Tür zwischen Wohnzimmer und Terrasse offen. Wer sie morgens öffnet, weiß Ruth nicht. Wahrscheinlich Pan Lersch, der ein Zimmer im Souterrain bewohnt, meistens als erster aufsteht, um den Ofen im Badezimmer zu heizen. Vielleicht auch Zdenka oder sogar Vater, der, wie er behauptet, nur eine Mütze Schlaf braucht. Und Ruth versucht vergeblich, sich den Schlaf in der Mütze vorzustellen.

Wenn es regnet, ist im Wintergarten gedeckt.

Lea trödelt morgens. Sie muß von Zdenka oder Mutter zur Eile gemahnt werden, im Bad, auf dem Flur. So kommt Ruth stets vor ihr zum Frühstück, hat längst ihren Platz am runden Tisch eingenommen, ehe Mutter und Lea erscheinen.

Vater begrüßt sie mit einem runden kaffeenassen Kuß auf die Stirn und fragt, wo Lea denn bleibe. Darauf hat sie nur ein Mal Auskunft geben müssen, meistens verschanzt sich Vater sofort hinter der Zeitung. Ruth zieht sich auf dem Stuhl hoch, läßt die Beine baumeln, holt tief Atem und genießt den Vorzug, mit Vater allein zu sein. Auch wenn die Zeitung ihn verbirgt.

Carlo, den älteren Bruder, bekommt sie morgens nie zu Gesicht. Er ist früh in die Schule aufgebrochen, frühstückt mit Zdenka und Pan Lersch in der Küche. Der große Bruder hat viel mehr Aufgaben und Pflichten als sie und Lea.

Sie mustert die mit Marmelade bestrichenen Semmelhälften auf ihrem und auf Leas Teller. Falls Leas Portion üppiger ausgefallen ist, kann sie jetzt noch tauschen.

Ein paar Mal hat Vater sie deswegen gerügt. Sie sei futterneidisch, ob sie sich nicht schäme?

Lea würde es an ihrer Stelle genauso machen.

Sie blieb hartnäckig. Vater gab nach.

Jedes Mal, wenn sie in die Semmel beißt, wundert sie sich, wie es in ihrem Kopf prasselt und kracht.

Im Dompark unter der Terrasse sind schon Spaziergänger unterwegs. Sobald Ruth nicht mehr kaut, kann sie Schritte auf dem Kies hören, kurze und lange, eilige und schleifende, und sie zerstört diese Musik, wenn sie von neuem in die Semmel beißt.

Lea läuft Mutter voraus, hüpft, die Hände in den Hüften abgestützt.

Ruth schaut nicht ihnen entgegen, sondern auf Vater, und weiß im voraus, was geschieht: Vater senkt die Zeitung, wirft einen Blick über den Rand, nickt, als wolle er Lea ermuntern, noch alberner zu hüpfen, legt die Zeitung über Teller, Tassen und Kanne, öffnet die Arme, und Lea springt ihm auf den Schoß. Jeden Morgen, wenn sie das tut, zieht Ruth sich zusammen und kneift die Augen zu.

Ja, Mädelchen, guten Morgen! Vater drückt Lea kurz an sich und hebt sie dann auf ihren Stuhl.

Mädelchen zu sein, ist das unerklärte Vorrecht Leas. Ruth bleibt immer Ruth, obwohl sie, denkt sie, mehr ein Mädelchen ist als die jüngere Schwester, viel feiner und zarter.

Nachdem Vater beschlossen hat, Lea und sie gemeinsam zur Schule zu schicken, und sie ungerechterweise ein Jahr warten muß, ist sie allerdings von Pan Lersch triumphal getröstet worden. Auf dem Gang hat er sie abgefangen, ihr zugeflüstert: Gräm dich nicht. Die Lea ist um ein Jahr blöder als du, und deswegen kannst du noch ein Jahr faulenzen. Ist das nichts?

Geht ihr Lea besonders auf die Nerven, wird sie von Vater unnötig bevorzugt, wie jetzt, denkt sie an Pan Lerschs Zauberspruch, der sie wunderbar stärkt: Die Lea ist um ein Jahr blöder als ich.

Lea, die ihr gegenüber sitzt, kichernd, das Kinn mit Marmelade beschmiert, hat davon keine Ahnung.

Die Eltern unterhalten sich, selten in ganzen Sätzen. Vater schaut nur ausnahmsweise über die Zeitung zu Mutter hin.

Ruth beobachtet sie dabei.

Mutter achtet darauf, daß sie genausoviel kaut, wie sie spricht.

Ich hab den Besuch – sagt Vater.

Die Breslauer? – fragt Mutter.

Wie kommst du auf die? – fragt Vater.

No ja, ich dachte – sagt Mutter.

Du irrst dich – sagt Vater.

Ja? – fragt Mutter.

Du hast es einfach vergessen – sagt Vater.

Möglich – sagt Mutter.

Der Indigofärber aus