: Lorenz Nachtigall
: Anna, Alzheimer und ich Bericht eines pflegenden Angehörigen über ein glückliches, erfülltes Leben
: myMorawa von Dataform Media GmbH
: 9783991290100
: 1
: CHF 4.00
:
: Lebenshilfe, Alltag
: German
Das Buch behandelt die Alzheimerkrankheit aus drei verschiedenen, integrierten Perspektiven: 1.Es ist der Erfahrungsbericht eines Ehemanns, der den Alltag und den Verlauf der Alzheimerkrankheit seiner Frau detailliert dokumentiert. 2.Es ist ein Ratgeber für eine an die individuelle Bedingungslage angepasste häusliche Pflege, die trotz Alzheimer die Aufrechterhaltung der Lebensqualität und eine glückliche, erfüllte Beziehung ermöglicht. 3.Es ist ein einführendes Sachbuch, das die Diagnose, Therapie und Betreuung von Alzheimerkranken anhand eines konkreten Falls erläutert. Das Buch zeigt•wie von der Alzheimerkrankheit Betroffene denken, fühlen, handeln,•wie durch ein auf die individuelle Bedingungslage ausgerichtetes, dialogorientiertes Pflegekonzept der Krankheitsverlauf verlangsamt und die Lebensqualität aufrechterhalten werden können,•welche Anforderungen häusliche Pflegekräfte von Alzheimerkranken erfüllen sollten,•welche Therapieformen es gibt und inwieweit diese wissenschaftlich fundiert sind,•welche ethischen Grundsätze für die Pflege gelten und welche Dilemmata damit verbunden sind,•welche Unterstützungsmöglichkeiten für Alzheimerkranke und ihre Angehörigen angeboten werden, was diese bringen und was sie kosten,•was für und was gegen Alten- und Pflegeheime spricht und welche Kriterien für die Auswahl eines Pflegeheims maßgeblich sind, wie pflegende Angehörige durch die intensive Beziehung zur gepflegten Person, das Gefühl, etwas zurückzugeben und gebraucht zu werden, die persönliche Weiterentwicklung und die Anerkennung von Dritten belohnt werden.

3 Wie Betroffene und Angehörige die Demenz erleben


In diesem Kapitel2 wird die Beschreibung fortgesetzt, was sich durch die Alzheimerkrankheit verändert hat, und wie es Anna und mir fünfeinhalb Jahre nach der Diagnose geht. Insgesamt habe ich den Eindruck, dass die Krankheit im letzten halben Jahr leider weiter fortgeschritten ist.

Vergessen – Reduktion der Welt

Anna hat zunehmend das Interesse an der Welt verloren. Sie interessiert sich nur mehr für sich selbst und sagt das auch so. Anders als in dem lesenswerten Buch „Der alte König in seinem Exil“, in dem Arno Geiger von der Vitalität, dem Witz und der Klugheit seines alzheimerkranken Vaters schreibt, sehe ich bei Anna nur die wachsende Verkürzung der Interessen. Dinge, die sie früher interessiert haben, wie Politik, Literatur, Mode, Kochen, Natur, Kunst, Architektur usw., haben kaum mehr Bedeutung. Anderes ist nicht an deren Stelle getreten, es bleibt nur Reduktion. Dasselbe gilt für Freunde und Bekannte.

Abb. 3/1: Inhalt von Kapitel 3

Eine Konsequenz ist, dass stapelweise alte Modezeitschriften weggeworfen und unsere tollen Kochbücher verschenkt werden. Die großen Perlenbestände werden zu Ketten verarbeitet, die im Keller landen oder verschenkt werden. Das früher enthusiastisch betriebene Kettenmachen ist ziemlich bedeutungslos geworden, es geht fast nur noch um die Aufarbeitung der großen, scheinbar belastenden Materialbestände.

Anna näht noch gern Kleider, für sich und einzelne Freundinnen, aber das hat seine Grenzen. Der Kleiderschrank birst vor ihren Kreationen und in Sardinien fehlen die Ausgangsvoraussetzungen (Stoffe, gute Nähmaschine).

Das wichtigste, komplett erhaltene Interessengebiet von Anna ist die Musik. Sie hört gern Musik, sie liebt Konzerte und Straßenmusikanten und am allerliebsten spielt sie selbst Klavier – Bekanntes und neue Stücke, täglich stundenlang. Kein Besucher kommt davon, ohne sich eine Sonate anzuhören. Sie lädt völlig Unbekannte von der Straße nach Hause ein, um ihnen am Klavier vorspielen zu können. Bei jedem Straßenmusikanten bleibt sie (für mich unendlich) lange stehen und geht nur widerwillig und nach zig Aufforderungen weiter. Am Neustifter Kirtag faszinierte sie ein singender Ziehharmonikaspieler, dessen Volkslieder sie früher nie beachtet hätte.

Die Einladung Unbekannter von der Straße zum Vorspielen von Stücken am Klavier ist beunruhigend, da bei uns Geldbörse, Mobiltelefon usw. offen herumliegen und ich mich frage, wann der erste Besucher etwas „mitgehen“ lässt. Wenn ich im Garten oder auf der Veranda arbeite, bekomme ich manchmal gar nicht oder erst sehr spät mit, dass Anna wieder einmal einen Besucher eingeladen hat. Vorhaltungen und „Unterlassungserklärungen“ von Anna sind wirkungslos.

Anna liebt Abwechslung und Neues. Auf ihren Spaziergängen mit dem Hund erkundet sie gern neue Gegenden. Unseren Hausstrand in Sardinien findet sie fad, sie will immer wieder woanders hinfahren.

Eine Konsequenz der Reduktion ihres Sprechvermögens ist, dass nur noch ich sie halbwegs verstehen kann. Dass geschieht vor allem durch Raten bzw. Interpretation des von ihr Gesagten im Kontext unserer gemeinsamen Erlebnisse. Oft weiß ich nicht, ob mich Anna verstanden hat, weil es von ihr kein Feedback gibt. Erst durch Nachfragen kann ich das feststellen, meistens mit negativem Ergebnis. Wiederholungen und Google-Bilder sind dann eine wertvolle Hilfe zur Erklärung. Manchmal erzähle ich auch irgendetwas, wohlwissend, dass ich nicht verstanden werde. Am ehesten kann Anna einfachen Themen des Alltags folgen, wie Gesprächen über das Wetter, den Garten, das Essen, den Hund. Sie hat noch einen Bezug zur Zeit, kennt den Wochentag, deckt am Sonntag ein besonderes Geschirr auf und fragt, wie lange wir noch in Wien/Sardinien sein werden, ehe wir nach Sardinien/Wien zurückkehren. Fragen nach ihren Bedürfnissen und Wünschen kann Anna nicht beantworten. Ebenso kann sie bei Warum-Fragen keine Er